23.08.2017

„Es zählt, was vor der Nase ist“

Eine Radtour? Klar, gern. Aber es muss schon eine Herausforderung sein. Thomas Hoffmann, Dechant in Wolfsburg, ist gern mit dem Rad unterwegs. Wenn andere über einen Sonntagsausflug nachdenken, plant er eine Nummer größer. Zum Beispiel: einmal quer durch Amerika.

Um schneller voranzukommen, schaltet er lieber einen Gang zurück. Das kennt Thomas Hoffmann aus Erfahrung. Der Profi nennt es Trittfrequenz. Warum sich mit einer hohen Übersetzung quälen, wenn man mit mehr Umdrehungen  einfacher ans Ziel kommt? Einen Radtour-Profi vor sich zu haben, bedeutet für den, der hinter ihm ist: Lernen. Kräfte einteilen. Die Strecke auf der Karte ablesen, statt sich vom Navi leiten zu lassen. Optimismus bewahren. Es wird schon gut gehen. Jeder Tag unterwegs  ist Gegenwart.

Wenn Thomas Hoffmann von seinen Touren auf dem Fahrrad erzählt, dann ist Begeisterung im Spiel: Freiheit. Das ist ein Wort, das er in diesem Zusammenhang gern benutzt. Aus eigener Kraft vorankommen, viel sehen, Landschaften erkämpfen. Einmal sagt er sogar: erobern.
 

Nein, er ist kein Freizeitradler. Natürlich ist Dechant Hoffmann im großen Dekanat Wolfsburg mit dem Auto unterwegs. Sonntags nachmittags eine kleine Entspannungstour zum Kaffeetrinken – das ist nicht seine Sache. Es muss schon eine Herausforderung sein für Kopf und Körper. Der Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Das ist eine Hausnummer. Dann aber bitte nicht mal die einfache Tour und mit dem Flieger zurück. Wenn schon, denn schon: Hin- und Rückweg. Mit ein paar Schlenkern waren das 6000 Kilometer. Von der Westküste Amerikas bis nach New York im Osten, den Blick immer geradeaus. 7000 Kilometer.  Von der Entfernung her mal so nebenher: Mit jungen Menschen zum Weltjugendtag nach Madrid. Mit 50 Pilgern einmal ums Bistum Hildesheim. 300 Kilometer von Berlin nach Kopenhagen – in einem Stück.  „Es zählt nur, was vor der Nase ist“, sagt Hoffmann.

Mit dem Fahrrad über lange Distanzen unterwegs sein – für den Wolfsburger Dechanten ist das auch eine Auszeit. Nachdenken, auftanken, Pläne schmieden, Perspektiven entwickeln. Das sind große Worte, die sicherlich eine Rolle spielen. Aber Thomas Hoffmann will sie nicht überstrapazieren. Mehr geht es ihm darum, Dinge loslassen zu können. Sich auf neue Aufgaben vorzubereiten.
 

Mit einem Pries­ter, der sich auf solche Extremtouren einlässt, muss man natürlich über Spiritualität reden, über die Suche nach Gott und alles, was dazu gehört.  Schön und gut, aber danach gefragt, wird Hoffmann ein bisschen einsilbig. Wird da nicht zu viel reininterpretiert? „Klar, auch auf einer Radtour bin ich Priester. Ich bin ja nicht in zwei Leben unterwegs. Aber zu viel hineininterpretieren möchte ich nicht.“ Natürlich lässt sich Gott erfahren auf diesen langen Strecken unterwegs, sagt er. Wenn es darum geht, eigene Grenzen kennenzulernen und vor allem zu überwinden. In den ungezählten Begegnungen mit Menschen natürlich. In den kleinen Wundern unterwegs, die so ganz unverhofft am Weg warten. Ein Beispiel? Klar, die Fahrradpanne auf der Amerika-Tour. Kein platter Reifen oder eine gebrochene Speiche, sondern ein defekter  Vorbau. Ein Fehler im System sozusagen, hier und jetzt droht der Abbruch. „Ich stehe ratlos an einer Kreuzung und eine Frau fragt mich aus ihrem Auto heraus, ob sie mir helfen kann“. In einem Land, in dem Fußgänger und Radfahrer in etwa so häufig unterwegs sind wie Außerirdische, bringt sie Hoffmann direkt zur Fahrradwerkstatt ihres Mannes, der tatsächlich den passenden Lenker vorrätig hat und ihn auch noch kostenlos einbaut.
 

Mit dem Fahrrad unterwegs sein – das ist für Thomas Hoffmann ein idealer Mittelweg zwischen Fußmärschen und Autofahrten. „Ich bringe Strecke hinter mich und sehe trotzdem unglaublich viel. Unterwegs bekomme ich ein Gespür für Entfernungen. Und mit einer guten Portion Gottvertrauen fühle ich mich, egal wo, begleitet und aufgehoben.“

Dann geht es natürlich auch darum, Grenzen zu überwinden, körperliche Anstrengung auszuhalten, mal mit dem Allernötigsten auszukommen, was in die Packtaschen passt, Unwägbarkeiten in Kauf zu nehmen, zu improvisieren, in schwierigen Situationen einfach mal die Hoffnung nicht aufzugeben, dass sich alles irgendwie schon regeln lässt. „Alles reduziert sich auf das, was im Leben wirklich zählt“, sagt Thomas Hoffmann. Erfahrungen tragen ihn durch den Alltag, auch wenn eine Radtour schon lange hinter ihm liegt und außer ein paar Fotos nur Erinnerungen bleiben: „Ich habe die Rocky Mountains mit dem Fahrrad bezwungen. Ich sage mir, es gibt im übertragenen Sinn auch im Alltag keinen Berg, den ich nicht packe.“ Und noch etwas hat er auf der Habenseite verbucht: „Wenn ich eine lange Strecke vor mir habe, muss ich sie einfach in Tagesetappen unterteilen. Heute ist heute, morgen ist morgen. Wenn ich aufstehe, muss ich mich den Herausforderungen stellen. Und abends bin ich zufrieden, wenn ich sie geschafft habe.“

Geschafft haben ist die eine Sache. Pläne schmieden und träumen die andere. Vielleicht reicht die Zeit ja für eine Tour quer durch Europa entlang des früheren Eisernen Vorhangs – von Finnland im Norden bis ans Schwarze Meer im Süden. Dafür würde sich Thomas Hoffmann gern noch einmal in den Sattel setzen und auch einen Gang runterschalten.

Stefan Branahl