20.03.2014

Werke der Barmherzigkeit: Kranke pflegen

„Ich tue es, weil es meine Pflicht ist“

Klar, für die Pflege gibt es Profis. Doch um die meisten pflegebedürftigen Menschen kümmern sich ihre Familien selbst. Kranke pflegen ist ein Werk der Barmherzigkeit – und noch viel mehr. Was heißt es für ein Paar, wenn ein Partner pflegebedürftig wird?

Joachim Lange sorgt immer für frische Blumen am Bett seiner Frau. Außerdem immer in Reichweite: Wasser, Telefon und das Beatmungsgerät. Foto: Beelte

Sie hatten sich auf das gemeinsame Weihnachtsessen gefreut. Zwei Stunden lang hatte Joachim Lange für das Essen in der Küche geschnippelt und gesotten:  „Wie ein Spitzenkoch.“ Auf dieser Bezeichnung besteht er. Wäre er nicht zu müde, würde er dazu vielleicht mit den Augen zwinkern. Aber seine angespannten Gesichtszüge wollen nicht so richtig zu dem Temperament passen, das aus seinen Worten spricht.

Joachim Lange heißt in Wirklichkeit anders. Aber seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Er möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, er wolle öffentlich gelobt werden für das, was er tut – und was er für selbstverständlich hält.

Als am Weihnachtstag das Essen auf dem Tisch stand, kam alles ganz anders: Seine Frau Marianne bekam keine Luft. Jetzt heißt es: schnell helfen, aber in Ruhe. Bloß keine Panik verbreiten. „Da war Weihnachten für mich gelaufen. Wir haben beide keinen Bissen mehr heruntergekriegt.“

Nur noch 27 Prozent der Lunge zum Atmen

Seit Jahren dreht sich für das Ehepaar Lange alles um das Thema „Luft“. Marianne Lange leidet an einer Lungenfibrose. Es fing an mit einer missglückten Lungenoperation in den 1960er-Jahren. Heute hat sie nur noch 27 Prozent ihrer Lunge zum Atmen. Neben ihrem Bett steht ein Gerät, das sie durch eine Maske über der Nase Tag und Nacht mit konzentriertem Sauerstoff versorgt.  Der Rhythmus des Gerätes ist genau auf ihren Atemrhythmus abgestimmt, und dieser Rhythmus bestimmt den Alltag des Ehepaares.

„Euer System funktioniert, solange einer von euch beiden kann“, stellt die Nichte von Joachim Lange nüchtern fest, die wie jeden Montag zur Unterstützung gekommen ist. Aber jetzt droht das System aus dem Gleichgewicht zu geraten: Der ehemalige Verkaufsleiter im Außendienst leidet an Arthrose, sein Knie müsste dringend operiert werden. Das Morphium lässt ihn frieren, während seine Frau gar nicht genug frische Luft haben kann. Seinen Krankenhaus-Aufenthalt bereitet er so sorgfältig vor. Es gibt nicht viele Verwandte und Freunde, die sich zutrauen, Marianne Lange im Notfall zur Seite zu stehen. Fünf Mal piept das Gerät, um Alarm zu geben – danach wird es lebensbedrohlich.

„In so einer Situation merkt man, wer die echten Freunde sind“, sagen die beiden 69-Jährigen. Viele Verwandte, Nachbarn und einige Mitglieder der Kirchengemeinde haben sie überrascht mit ihrer Hilfsbereitschaft. „Ihr könnt auf mich zählen im Notfall – egal, wie spät es ist“, versprach die Nachbarin. Die Nichte macht Marianne Lange Mut: „Wenn der Frühling da ist, gehen wir wieder zusammen nach draußen.“ An jeweils einem Tag in der Woche, darauf haben sie sich geeinigt, stehen die Kinder der Langes zur Verfügung.  

Aber es gibt auch die andere Erfahrung: Freunde, die nach vierzig Jahren den Kontakt abbrechen. Eine Freundin, die Jahre brauchte, um den Weg an das Bett von Marianne Lange zu finden. „Ich habe sie hinterher angerufen und mich für den Besuch bedankt, da ist sie sofort in Tränen ausgebrochen“, berichtet Joachim Lange. „Da habe ich gemerkt: Sie packt das nicht. Als ich das verstanden hatte, konnte ich es auch akzeptieren.“ Er verlangt ja gar nicht, dass ihm jeder Bekannte Hilfe bei der Pflege anbietet: „Einfach mal anrufen und fragen, wie es geht. Das reicht schon.“   

Was ihn zermürbt: „Du musst in unserem Gesundheitssystem um alles kämpfen.“ Ein zweites Beatmungsgerät, falls das erste ausfällt? Die Langes haben es bekommen – wie bisher alles andere, von dem die Gesundheitsbürokraten zuerst gesagt hatten, das sei unmöglich. „Dann müssen unsere Anliegen ja berechtigt gewesen sein“, kommentiert Joachim Lange bitter. Zweimal wurde eine höhere Pflegestufe für Marianne Lange abgelehnt, bis die Einsprüche des Ehepaares Gehör fanden. In einer Minute soll der Toilettengang erledigt sein? Vier Minuten, um eine Scheibe Brot zu schmieren und anzureichen? „Zeigen Sie mir mal, wie das gehen soll“, schleuderte Lange den Sachbearbeitern entgegen. „Pflege – da geht es um Geld“, so hört er es von den Gesundheitsfachleuten. Da widerspricht Joachim Lange: „Mir geht es um Anerkennung der Pflege!“

Kleine Fluchten und der Fernsehgottesdienst

Kranke pflegen – ein Werk der Barmherzigkeit?  Für Joachim Lange ist das ein zu großes Wort. „Ich tue das, weil es meine Pflicht ist.“ Seit 45 Jahren ist er verheiratet, das verpflichtet, erklärt er. „Wir sind keine kleinen Kinder mehr, wir können auf Dinge verzichten.“ Aber manchmal gönnt er sich doch eine kleine Flucht zwischendurch – am Laptop. Dann surft er auf die Internet-Seiten der Urlaubsorte, wo er mit seiner Frau gewesen ist, oder liest in der „Tiroler Tageszeitung“.

„Der Fernsehgottesdienst am Sonntag ist die einzige Stunde in der Woche, in der ich wirklich zur Ruhe komme“, erzählt er. „Ohne die Verbindung nach oben würde ich das nicht packen. Beten hilft – das hätte ich früher nicht gedacht.“ Er ist stolz da­rauf, wie viel er durch die Pflege dazu gelernt hat. Dass aus einem „Pascha“, wie seine Frau ihn früher genannt hat, ein versierter Koch geworden ist. 24 Stunden zu zweit – das ist eine tägliche Belastungsprobe für die Beziehung. Aber eines ist wichtig, wenn es mal knirscht, verrät Marianne Lange: „Wir gehen nie schlafen, ohne wieder gut miteinander zu sein.“

Annedore Beelte