27.05.2014

Nachgefragt zur Europawahl

„Mehr Begeisterung, bitte“

Ein neues Europaparlament ist gewählt. Aller Jubel der Parteien über ihre Interpretation des Wahlergebnisses kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europabegeisterung anders aussieht – meint Dr. Hans-Jürgen Marcus, Direktor des Caritasverbandes der Diözese Hildesheim.

Nicht einmal die Hälfte der Deutschen haben das Europäische Parlament gewählt. Worauf führen Sie das zurück?

Europa ist wichtig und einmischen nötig, meint
Caritasdirektor Dr. Hans-Jürgen Marcus

Ich bin sehr froh, dass wir in Deutschland immerhin eine gestiegene Wahlbeteiligung hatten. Trotzdem kann man mit der Wahlbeteiligung nicht zufrieden sein, zumal viele Kommunalwahlen die Beteiligung sicherlich gestützt haben. Im Kern bin ich davon überzeugt, dass wir endlich aufhören müssen, ständig über Europa als einen schwer erkrankten Patienten zu reden. So entsteht keine europäische Leidenschaft.

Lag das auch am Wahlkampf?

Auch die Kandidaten haben sich schwergetan, Europa als eindrucksvolles Friedensprojekt, als kulturelle Errungenschaft  und als wirtschaftliche Erfolgsgeschichte zu präsentieren. Für viele Bürgerinnen und Bürger ist Europa heute wohl schon zu selbstverständlich geworden. Der Wahlkampf war doch sehr defizitorientiert und geprägt davon, sich gegen die Europakritiker abzugrenzen. Ich wünsche mir mehr Europabegeisterung.

In mehreren Ländern gab es einen Rechtsruck zu nationalistischen Parteien. Ist das schon der Abgesang auf die europäische Idee?

Die Entwicklungen um die Wirtschaftskrise und die gestiegene soziale Ungleichheit in den Mitgliedsländern hat zu einer Stärkung europaskeptischer und rechtsradikaler Parteien geführt. Gott sei Dank hat sich ein solcher Trend für die Bundesrepub­lik Deutschland nicht bestätigt. International ist der Trend aber doch besorgniserregend. Hier wird man den Wert des europäischen Integrationsprozesses deutlicher herausstellen und erfahrbar machen müssen. Die Erfahrung von europäischer Solidarität ist wichtiger und besser als der Eindruck einer Dominanz einiger weniger Staaten auf die anderen. Wir brauchen in Zukunft viel Engagement für das europäische Projekt. Wer glaubt, dieses könne man einfach einmal scheitern lassen, der irrt und befördert gefährliche Entwicklungen.

Sie haben sich im Vorfeld für eine humanere Flüchtlingspolitik durch die EU eingesetzt. Warum?

Allein im Jahr 2012 haben mehr als 330.000 Menschen in den Mitgliedsstaaten der EU Schutz gesucht. Weil die Einreise in die EU über den Landweg immer schwieriger geworden ist, versuchen es viele Menschen über den gefährlichen Seeweg. „Lampedusa“ ist dafür zum Begriff geworden. Und viele Menschen erreichen Lampedusa nicht, ertrinken im Mittelmeer oder werden schnell zurückgeschickt.

Landesfahnen vor dem Europäischen Parlament: Europa darf nicht von wenigen Staaten dominiert werden, findet Caritasdirektor Dr. Hans-Jürgen Marcus. Gerade Sozialpolitik werde zu zwei Dritteln von Europa her gestaltet. Foto: kna-Bild.

Halten Sie trotz des Ergebnisses an der Forderung fest?

Natürlich. Europa darf keine Festung sein. Wir brauchen legale Möglichkeiten, in die Staaten der EU einzureisen. Das Grenzschutzsystem Frontex der Europäischen Union darf die Menschenwürde nicht unterminieren. Auf hoher See aufgegriffene Schutzbedürftige müssen in einen EU-Staat gebracht werden und in den Mitgliedsländern muss ein vergleichbar hoher Standard für ein europäisches Asylrecht geschaffen werden. Daran müssen sich alle Länder beteiligen. Das ist eine meiner stärksten Erwartungen für die Legislaturperiode des Parlaments.

Europa ist ja für die Caritas gar nicht weit weg. Was hat sie mit Brüssel und Straßburg zu tun?

Das Europäische Parlament hat sich in der letzten Legislaturperiode für viele Anliegen eingesetzt, die aus Caritassicht zu begrüßen sind. So wurde im Blick auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit eine europäische Jugendgarantie beschlossen, durch die allen jungen Menschen unter 25 Jahren innerhalb von vier Monaten nach Abschluss ihrer Ausbildung ein konkretes Arbeits- oder Praktikumsangebot erhalten sollen. Die Armutsbekämpfung und Beseitigung der gestiegenen sozialen Ungleichheit in den Mitgliedsstaaten soll in der nächsten Förderperiode eine hohe Priorität haben.

Wie kann das gelingen?

Durch kleine und große Schritte. In allen Mitgliedsstaaten soll es ein „Girokonto für jedermann“ geben, ein kleiner Schritt, den unsere Schuldnerberatungen seit Jahren auch für Deutschland einfordern. Ich würde sagen: Fast zwei Drittel unserer Sozialpolitik wird auch von Brüssel her mitgestaltet. Da ist es dringend notwendig, dass wir eine Idee für ein soziales Europa haben. Manchmal schiebt uns hier Europa und manchmal müssen wir Europa mitschieben – mit großen Schritten.

Fragen: Rüdiger Wala