08.03.2012
Nahtod-Erlebnisse
"Am Ende war ein Licht"
Menschen, die nach einem Beinahe-Tod wiederbelebt wurden, berichten über ihre Erfahrung des Sterbens. Diese Erfahrungen können Außenstehende befremden oder schaudern lassen, aber auch Hoffnung machen.
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„Aufstieg in das himmlische Paradies“ von Hieronymus Bosch (1450–1516): Der niederländische Maler verarbeitet mit dem Tunnel zum Licht ein Bild, das auch in Nahtoderfahrungen gesehen wird. |
Ein neunjähriges Mädchen geriet während einer Blinddarmoperation in akute Todesnähe. Nachdem die Ärzte sie in letzter Minute wiederbelebt hatten, berichtete das Mädchen über die Rettungsaktion. Sie habe alles von einem Standpunkt außerhalb ihres Körpers erlebt. „Ich hörte sie sagen, mein Herz habe aufgehört zu schlagen, aber ich schwebte unter der Decke und schaute herunter. Als ich meinen Körper sah, wusste ich erst nicht, dass ich das war. Dann merkte ich es, weil ich meinen Körper erkannte. Ich ging hinaus auf den Gang und sah meine Mutter weinen. Ich fragte sie, warum sie weinte, aber sie konnte mich nicht hören. Die Ärzte dachten, ich sei tot. Dann kam eine schöne Frau und half mir, denn sie wusste, dass ich Angst hatte. Wir gingen durch einen Tunnel und kamen in den Himmel. Da waren wunderbare Blumen. Ich war bei Gott und bei Jesus. Sie sagten, ich müsse zurück zu meiner Mutter, weil sie verzweifelt sei. Ich müsse mein Leben zu Ende leben. Dann bin ich aufgewacht. Ich möchte jetzt immer noch zu diesem Licht zurück, wenn ich sterbe... Das Licht war sehr hell.“
Als der US-amerikanische Psychologe Raymond A. Moody in den 1970er-Jahren erstmals dieses und andere Erlebnisse aufzeichnete, war das eine Aufsehen erregende Entdeckung. Moody wurde als Student durch einen Arzt auf diese Erfahrungen aufmerksam gemacht. In seinem Buch „Life after Life“ (Leben nach dem Leben) schildert er 150 Nahtod-Erlebnisse.
Immer mehr gelungene Wiederbelebungen
Wie häufig das Phänomen auftritt, ist nicht sicher. Eine niederländische Untersuchung hat im Jahr 2002 344 Patienten befragt, die nach einem Herzstillstand wiederbelebt wurden. 62 von ihnen berichteten von den typischen Nahtod-Erfahrungen. Eine Gesamt-Statistik ist dagegen mit großen Unsicherheiten behaftet. Erwiesen ist nur, dass Nahtoderlebnisse in den Industrieländern häufiger auftreten als in Entwicklungsländern, in der Gegenwart mehr als in der Vergangenheit. Das könnte eine Folge des medizinischen Fortschritts sein.
Heute sind Berichte von Fast-Gestorbenen, die den Gang durch einen Tunnel erlebt haben oder das Ablaufen des „Lebensfilms“, nichts Neues. Aber was ist davon zu halten? Die Reaktionen haben sich seit 40 Jahren nur langsam verändert.
Die Skeptiker halten solche Erlebnisse für Geistesaussetzer, Halluzinationen oder Wunschträume, manchmal sogar für einen Fall für die Psychiatrie. Tatsächlich haben die Zeugen keine Möglichkeit, die Wahrheit ihrer Erlebnisse zu beweisen. Es fällt ihnen sogar schwer, das Erlebte in Worte zu fassen. „Das Licht, das ich gesehen habe, hatte Farben, die es im Leben gar nicht gibt“, berichtet einer, der ins Leben zurückgekehrt ist. „Ich war in einem wunderschönen Land, das man nicht beschreiben kann“, erzählt ein anderer.
„Beweise“ werden nicht überall anerkannt
Im Spektrum der dokumentierten Nahtoderfahrungen gibt es solche, die eine Überprüfung erlauben. Es handelt sich um das Phänomen, dass Personen während der Todesnähe Geschehnisse sehen, die sie gar nicht sehen können: Sie beschreiben etwa in allen Einzelheiten die Wiederbelebungsversuche der Ärzte. Andere wissen, was abwesende Personen tun. Der Arzt Michael B. Sabom lässt einen Patienten zu Wort kommen, der in einem Nahtoderlebnis durch die Stadt ging und einen Freund sah, der sich die Räder im Schaufenster eines Fahrradladens anguckte. Tatsächlich bestätigte der Freund, dass er in eben diesem Moment vor dem Laden gewesen war.
Bei solchen Berichten werden die Überzeugten noch gläubiger, die Skeptiker aber noch skeptischer. Für die Menschen, die ein Nahtod-Erlebnis hinter sich haben, bedeutet das: Viele trauen sich nicht, davon zu sprechen. Sie fürchten, nicht für voll genommen zu werden oder sind sich selbst nicht sicher, was das Erlebte überhaupt bedeutet.
Die Mehrzahl der Theologen scheut sich, diese Erfahrungen als Ausweis des Lebens nach dem Tod zu benutzen. Hans Küng schreibt in seinem Buch Ewiges Leben: „Solche Sterbeerlebnisse beweisen für ein mögliches Leben nach dem Tod nichts. Denn hier geht es um die letzten fünf Minuten vor dem Tod und nicht um ewiges Leben nach dem Tod.“
Dass die Fast-Verstorbenen nicht von der „anderen Seite“, sondern nur von einer Phase des Übergangs berichten können, bestreitet dabei niemand. Und zumindest stehen die Übergangs-Erlebnisse dem Auferstehungsglauben der Christen näher als dem materialistischen Glauben an den Tod ohne Leben. „Was können wir vom Evangelium her gegen das Bild einwenden, das uns die Nahtod-Erfahrungen vermitteln?“, fragt der evangelische Theologe Jörg Zink. „Zunächst: gar nichts. Was geschildert wird, ist mit dem christlichen Glauben voll vereinbar.“
Der Hamburger Autor Jörgen Bruhn plädiert dafür, über Nahtod-Erfahrungen in der Seelsorge, in Hospizen und in der Medizin zu sprechen. Er selbst behandelt das Thema im Philosophie- und Religionsunterricht aller Schularten. Und immer wieder trifft er dabei auf Hörer, die von ihren eigenen Nahtod-Erfahrungen berichten.
Weniger Angst vor dem Tod
Für Bruhn stützen die Berichte von Nahtod-Erfahrungen die christliche Auferstehungshoffnung. Und sie können die Angst vor dem Sterben nehmen, den Tod als Vollendung und Neubeginn zu begreifen helfen. Dabei sind nicht alle Nahtod-Erfahrungen Glückserlebnisse. Insbesondere bei Selbstmordversuchen ist das Erlebnis häufig mit Angst verbunden. Und wenn – wie sehr häufig – Sterbende das eigene Leben im Schnelldurchlauf durchleben, erleben sie auch mit Trauer das Unheil, das sie angerichtet haben.
Erstaunlich viele Patienten aber verlieren, nachdem sie ins Leben zurückgekehrt sind, die Angst vor dem Tod. Sie betrachten das Erfahrene als Geschenk, das das Leben verändert. Viele berichten davon, dass sie fortan nicht das Gefühl von Leere und Langeweile haben. Dass sie sinnlose Unterhaltung meiden, eine besondere Aversion gegen Gewalt und Aggression entwickeln, etwa keine Krimis im Fernsehen mehr sehen wollen.
Jörgen Bruhn erinnert sich an einen Diskussionsbeitrag, der für viele andere steht. In einer Diskussionsveranstaltung einer Altenakademie meldete sich eine 82-jährige Frau, die von einem 60 Jahre zurückliegenden Nahtoderlebnis erzählte. „Seitdem lebe ich nun schon 61 Jahre und habe nicht eine einzige Sekunde Angst vor Sterben und Tod gehabt, selbst als ich mehrmals schwerkrank gewesen bin. Das alles empfinde ich als ein übergroßes Geschenk.“
Von Andreas Hüser