13.09.2017

Der gewollte Hunger

Millionen Ukrainer fielen 1931/32 einer Hungersnot zum Opfer. Das Elend hatte System: Die Sowjets wollten mit einer künstlichen Verknappung den Widerstand der stolzen Ukrainer brechen. Über Jahrzehnte durfte über den sogenannten Holodomor nicht offen gesprochen werden. Doch es gibt bestürzende Berichte.

Ingo Rauzow (59) zeigt ein altes Familienbild von
seiner Mutter Zoë Onischenko als Mädchen von
acht Jahren. | Fotos: Nestmann

Bis zum Ende der Sowjetunion war es unter Strafe verboten, die große Hungersnot als ein von Menschen gemachtes Verbrechen zu bezeichnen. Die Augenzeugen schwiegen meist bis zu ihrem Lebensende. Manchmal aber erfuhren die Enkel doch etwas  – so Olexandra Brodska (43) und Ingo Rauzow (59) von der ukrainisch-unierten Gemeinde St. Wolodymyr in Hannover-Misburg.

Ingo Rauzow, von Beruf Dolmetscher und seit 1990 in Deutschland lebend, erinnert sich an eine Geschichte aus seiner Kindheit: „Damals war ich zehn Jahre alt, wohnte in Charkiw und erfuhr von meinem Opa Pavlo Onischenko etwas, was für einen im sowjetischen Schulsys­tem erzogenen Jungen eine unglaubliche Provokation war. Er erzählte von der Hungerzeit im Jahr 1932: „Damals schlichen sich nachts elende Gestalten in unsere Stadt Charkiw. Es waren Bauern. Sie knieten vor uns und bettelten. Und was sie über ihre Heimatdörfer sagten, war furchtbar — etwa: Die meisten sind schon verhungert, nur noch wenige am Leben. Nur, wenn ganz schnell Hilfe kommt, kann man sie retten.“

„Bitte, halt doch den Mund“

Während der Großvater erzählt, versucht die Großmutter, ihren Mann zu stoppen: „Bitte nichts sagen! Bitte, bitte, halt doch den Mund!“ Sie hat Angst, dass der Enkel sich außerhalb der Familie verplappert. Aber der Großvater lässt sich nicht beirren und erzählt weiter, dass er selber und seine Familie nicht hungerte. Er war Vorarbeiter in einem Industriewerk und damit privilegiert. Die Kommunisten brauchten seine Arbeitskraft.

Pavlo Onischenko versuchte anderen zu helfen – aber er scheiterte. In seinem Heimatdorf Stara Werischakriwka (heutiger Name: Dikaniwka) am Stadtrand von Charkiw lebten sein Cousin und seine Cousine mit ihren Familien. Obwohl es streng verboten war, die abgeriegelten Dörfer mit Lebensmitteln zu unterstützen, machte er sich auf den Weg.

Mit Bollerwagen und Rucksack gestoppt

Ingo Rauzow sagt: „Über einen Feldweg mit einem Bollerwagen und Rucksäcken wollten er, die Oma und eine dritte Person es nach Stara Werischakriwka schaffen. Aber der Weg wurde überwacht, und sie wurden von einem Soldaten gestoppt. Der Ausweis wurde kontrolliert, und als der Soldat sah, dass mein Großvater Vorarbeiter war, hielt er kurz inne und sagte dann zu ihm: „Du weißt, was passiert, wenn wir dich noch einmal erwischen!“ Mein Großvater hat es nicht noch einmal probiert. Als nach einem Jahr der Zugang nach Stara Werischakriwka wieder frei war, lebte dort niemand mehr. Alle Häuser waren leer. Später wurden dort Russen angesiedelt. Was aus den Verwandten und den anderen Bewohnern von Stara Werischakriwka geworden ist, weiß bis heute niemand.“

„Dieses gottlose System musste
irgendwann verschwinden“,
sagt Olexandra Brodska.



Als Erwachsener in den 80er-Jahren erfährt Ingo Rauzow von seiner Mutter ein weiteres Erlebnis mit dem Holodomor: „Es war im April 1933. Meine Mutter, damals sechs Jahre alt, war in einem Erholungslager für Vorschulkinder gewesen und wurde von meinem Großvater von dort abgeholt. Auf der Heimfahrt mit dem Zug nach Charkiw blickten beide aus dem Zugfenster. Plötzlich rief meine Mutter laut: „Papa! Halt den Zug an! Siehst Du die schönen großen Puppen da liegen? Die sehen so echt aus! Die will ich haben!“ Für eine Sechsjährige kann ein Papa fast alles, also auch den Zug anhalten. Doch die Puppen waren keine. Es waren die Leichen von verhungerten Bauern. Mit letzter Kraft hatten sie sich zu dieser Bahnlinie geschleppt, um von den Reisenden etwas Brot zu erbetteln. Mein Großvater überspielte die Situation, indem er meine Mutter vom Fenster weg zur Mitte des Waggons zog und sagte: „Gleich sind wir in Charkiw. Da kauf‘ ich dir so eine Puppe.“

Ingo Rauzows Mutter erzählte ihrem Sohn weiter: „Ein paar Tage nach der Rückkehr aus dem Erholungslager begannen in Charkiw die Feiern zum 1. Mai. Während in den abgeriegelten Dörfern der Umgebung die Menschen verhungerten, wehten hier die roten Fahnen, spielten die Musikkapellen und drehten sich für uns Kinder die Karussells.“

Olexandra Brodska (43), Managerin in der Baubranche, Mitglied der ukrainisch-unierten Gemeinde St. Wolodymyr, stammt aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Ihre Großmutter Horpyna Dikj war Bäuerin und lebte von 1905 bis 1987. Ihr Heimatdorf Morozivka, 50 Kilometer östlich von Kiew war der Ort ihrer Holodomor-Tragödie.

Das Wissen ist verschwunden

Olexandra Brodska sagt: „Meine Oma hatte fünf Kinder. Während des Holodomors ernährte sich die Familie von Blättern und Wurzeln. Ihr Glück war, dass sie eine Kuh hatte, die etwas Milch gab. Aber ihr Mann Anton Lyssenko ist im Winter 1933/34 verhungert. Eines der Kinder ist auch gestorben, aber ich weiß nicht, ob das am Hunger lag. Auch zwei Schwestern meiner Oma sind im Holodomor verhungert. Mehr weiß ich nicht. Zu viele Menschen haben zu lange zu viel Angst gehabt. Da ist das Wissen verschwunden.“

Tillo Nestmann