09.04.2014
Werke der Barmherzigkeit: Fremde beherbergen
Ein Bett für die Nacht
Barrien, ein Ortsteil von Syke, rund 20 Kilometer südlich von Bremen. Direkt durch den Ort, vorbei an der historischen Wassermühle, geht einer der Pilgerwege nach Santiago de Compostela. In der Pilgerherberge von Gerta Schmidt ist jeder willkommen und bleibt nicht fremd.
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Gern greift Gerta Schmidt zum Gästebuch und liest noch einmal, was die Pilger hineingeschrieben haben. Fotos: Edmund Deppe |
Nur wenige hundert Meter vom Pilgerweg entfernt liegt das Haus von Gerta Schmidt. Vor sieben Jahren hat sie ihr Haus für Pilger geöffnet, die hier auf dem Jakobsweg unterwegs sind. „Einige kommen über den baltischen Weg von Lübeck her oder sogar aus Polen, andere sind auf dem skandinavischen Weg gestartet und kommen aus der Richtung Bremen“, erzählt Gerta Schmidt.
„Für mich war es ein Herzensanliegen“
Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, hatten die Schmidts Platz und als 2006 der alte Pilgerweg neu ausgezeichnet wurde, hat Gerta Schmidt nicht lange überlegt. „Ich musste es einfach tun, es war mir ein Herzensanliegen, den Menschen, die auf dem Pilgerweg unterwegs sind, ein Dach über dem Kopf und ein warmes Bett anzubieten.“
Ihr Engagement hat mit ihrer eigenen Familiengeschichte zu tun. Wie viele Schwaben folgten ihre Vorfahren dem Ruf der russischen Zarin Katharina der Großen und siedelten sich in Bessarabien an. „Als die Nazis das Sagen hatten, wurde das ganze Dorf 1940/41 ins besetzte Polen nach Westpreußen umgesiedelt.“ Hier wurde 1943 Gerta Schmidt geboren. Mit gerade mal einem Jahr folgte im Januar 1945 bei eisigen Temperaturen mit Pferd und Wagen die Flucht vor der Roten Armee über die Weichsel.
„Ich weiß das nur aus Erzählungen meiner Mutter. Wir waren zusammen neun Personen: Meine Oma, meine Mutter, ihre beiden Schwestern und insgesamt fünf Kinder. Vater fehlte, der war im Krieg. Meine Mutter hat oft von der Gastfreundschaft erzählt, die wir unterwegs erfahren haben. Aber manchmal wurden wir auch abgewiesen und mussten auf dem Wagen übernachten.“
Auch wenn Gerta Schmidt sich selbst nicht an die Flucht erinnern kann, sind ihr die Jahre des Neuanfangs noch präsent. „Wir waren die Flüchtlinge, die Fremden, und wurden teilweise auch so behandelt“, erinnert sich die heute 70-Jährige.
In Barrien fand die Familie schließlich eine neue Heimat, lernte Gerta ihren Mann kennen und heiratete. „Aber die Erfahrung, fremd zu sein, aber auch gastfreundlich aufgenommen zu werden, hat sich eingeprägt und ist sicherlich ein Grund dafür, dass wir uns als Pilgerherberge engagieren.“
Bibel hat ihren Platz auf dem Nachttisch
So haben Schmidts liebevoll ein Zimmer hergerichtet – mit eigener Dusche und WC. Ein Klappsofa dient als Bett für ein oder zwei Personen. Auf einem kleinen Tisch liegt das Gästebuch, daneben steht ein Terrakottaengel. „Hier sitzen die Pilger meist abends und schreiben in unser Gästebuch oder führen ihr Tagebuch“, weiß Gerta Schmidt. Und ganz selbstverständlich hat auf dem Nachttisch eine Bibel ihren festen Platz, daneben eine Spendendose. Wer kann, gibt für die Übernachtung fünf Euro und wer nicht – „Abgewiesen wird bei uns niemand!“
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Der Terrakottaengel hat vielen Pilgern Gesellschaft geleistet. |
Im vergangenen Jahr haben 14 Pilger die Gastfreundschaft der privaten Pilgerherberge in Anspruch genommen. „Sie rufen meist von der letzten Übernachtung aus in der Kirchengemeinde an und werden dann an uns weitervermittelt“, erklärt die Herbergsmutter. Ihren Pilgern begegnet sie mit Offenheit und Vertrauen.
„Für uns ist es ganz selbstverständlich, wenn es zeitlich passt und sie es auch wollen, dass wir zusammen Abendbrot essen und frühstücken. Und dabei wird erzählt. Es gibt so viele interessante Geschichten, die ich mir gerne anhöre“, verrät Gerta Schmidt. Sie berichtet von der Neuseeländerin, die bei Eis und Schnee unterwegs war, von dem Mann aus Polen, der total erschöpft war, von dem Paar, das nach Santiago pilgerte und dann für immer in Spanien bleiben wollte, oder von der Studentin aus Finnland, die über ihre Erfahung auf dem Jakobsweg in einer Zeitung berichten wollte.
Essen, Duschen, Ausruhen – mehr nicht
Die meisten Pilger kommen zwischen Mai und Anfang Oktober. Es sind Handwerker dabei oder auch Ärzte. Selten sind sie unter dreißig, die meisten sind so um die 40, 50 oder noch älter. „Zu uns kommen sie entweder allein oder zu zweit. Für jeden Pilger habe ich ein Paar Pilgerschuhe parat, damit sich die Füße vom langen Marsch erholen können. Was die Pilger brauchen, wenn sie bei uns ankommen, kann man kurz in drei Worten zusammenfassen: Essen, Duschen, Ausruhen – mehr nicht.“
Sie kommen als Fremde und gehen als Freunde, so kann man im Gästebuch nachlesen. „Manchmal melden sie sich hinterher sogar noch einmal oder schicken eine Karte, wenn sie an ihrem Ziel angekommen sind. Darüber freuen wir uns, aber wir erwarten es nicht.“
Wenn Gerta Schmidt darüber nachsinnt, warum sie ein Pilgerzimmer eingerichtet hat, gibt es neben ihrer Familiengeschichte einen weiteren Grund – ihren tief verwurzelten Glauben. „In der Bibel sagt Jesus selbst, dass man Fremde beherbergen soll. Das hat was mit Barmherzigkeit zu tun. Auch wenn dieses Wort aus der Mode gekommen ist, ist es für uns kein leerer Begriff. Und so geben wir den Menschen, die auf Reisen sind, eine Herberge, damit sie wieder auftanken können und Kraft sammeln können – für den weiteren Weg“, sagt Gerta Schmidt und freut sich schon auf die nächsten Pilger.
Edmund Deppe