09.09.2013
Leben mit Downsyndrom
Gottes Zugabe
Wir waren eine ganz normale Familie mit unseren vier Wunschkindern, hatten große und kleine Freuden, große und kleine Nöte, wie andere Mehrkindfamilien auch. Dann kam Lena auf die Welt. Sie hat das Downsyndrom.
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Was nicht jedes Kind kann, schafft Lena. Sogar in Konzerten spielt sie Klavier. Fotos: privat |
Den Moment, als ich begriff wieder schwanger zu sein, werde ich nicht vergessen. Es war an einem Sonnabendmorgen. Wir waren mit unseren Kindern in Afrika gewesen. In Tunesien hatten wir zwei tolle Urlauswochen verlebt, unsere Zwillinge waren fünfzehn und ihre kleinen Geschwister vier und sechs Jahre alt. Wir hatten es geschafft, das „Gröbste“ überstanden. Als die altvertraute Übelkeit an diesem Morgen über mich kam, wusste ich: Wir bekommen ein weiteres Kind. Und das Ärmste tat mir sofort leid. Denn diesmal freute ich mich zunächst nicht.
Das bekam auch sofort mein Mann zu spüren. Sonst habe ich ihm unsere Kinder immer sehr feierlich angekündigt, bei Kerzenschein und Wein, von dem ich nicht mehr trank. Er war im Begriff, einkaufen zu fahren und fragte mich, ob mir noch etwas einfiele, was wir brauchten. „Ja. Einen Schwangerschaftstest!“„Bitte?!?“„Nein, kannst du lassen. Ich weiß es auch so!!“ „Bist du sicher?“ „Klar. Ist doch unser fünftes Kind.“
Eine Freundin belehrte uns: „Seht ihr, das habt ihr von eurer NFP, eurer natürlichen Familienplanung.“ Aber wir glaubten nicht an eine Verhütungspanne, nach so vielen Jahren NFP kannte ich mich mit meinem Körper sehr gut aus. Wir waren uns sicher: Das war Gottes Zugabe zu unseren vier Wunschkindern. Welche Herausforderungen sie uns abverlangen würde, das ahnten wir zum Glück noch nicht.
Diagnose Downsyndrom
Hatte ich die Neuigkeit meinem Mann einfach im Alltag zugerufen, wollten wir für unsere Großen einen würdigen Rahmen wählen, um das neue Familienmitglied anzukünden. Ich bereitete für den Abend ein Drei-Gänge-Überraschungsmenü zu und rief die Kinder an den festlich gedeckten und mit dem fünfarmigen Sonntagsleuchter gekrönten Tisch.
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Reitstunde: Wenn die Mama (rechts) dabei ist, ist auch das schaukelnde Pferd nicht so unheimlich. |
Unser Sohn fragte: „Seid ihr nicht schon zu alt dafür?“ Mit einem neuen Geschwisterchen hatten sie offensichtlich überhaupt nicht mehr gerechnet.
Umso mehr schmerzte es mich, sie nach Lenas Geburt erst über den Verdacht und dann über das Downsyndrom unterrichten zu müssen. Aber die Annahme ihrer behinderten Schwester war beispiellos und schenkte uns Eltern eine Menge Kraft. „Es hätte auch einer von euch sein können, den dieses Schicksal trifft“, verteidigte ich Lena unnötigerweise vor meinem ältesten Sohn. „Du hättest ja doch nicht abgetrieben!“, sagte er in seiner schlaksigen Art. Sein Blick signalisierte mir: Es ist in Ordnung. Meine große Tochter informierte sich sofort zum Downsyndrom und teilte mir erleichtert mit, dass Menschen mit dieser Behinderung Gott sei Dank heute eine nahezu normale Lebenserwartung haben. Und Lena gehörte für ihre Geschwister zu uns, vom ersten Tag an.
Das süßeste Baby der Welt
Nach Lenas Geburt warteten wir eine Woche lang auf den Befund darüber, ob sie am Downsyndrom leidet oder nicht. Mein Mutterherz saß im Schraubstock zwischen Hoffen und Bangen. Es gab nicht viele Zeiten in meinem Leben, in denen ich so intensiv gebetet habe.
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Lena als stolzes Erstkommunionkind. |
Am ersten Tag war ich noch eine total glückliche Mutter, hatte ich doch das süßeste Baby der Welt bekommen. Das denkt zwar jede Mutter, aber Lena war wirklich unbeschreiblich niedlich. Ich kämpfte mit den Säuglingsschwestern um mein Kind, das nicht an der Brust trinken wollte und dem sie deshalb Tee geben wollten. Ich gab Lena nicht mehr aus der Hand, sondern behielt sie auch nachts bei mir im Bett. In der zweiten Nacht hörte ich meine Kleine neben mir erwachen, bot ihr meine Brust an und sie begann zu trinken, zwar viel schwächer, als ich es von ihren Geschwistern gewohnt war, aber es war der Beginn einer ebenso langen und intensiven Stillzeit, wie bei den Großen. Eines der Probleme der Menschen mit Downsyndrom ist der offene Mund auf Grund der angeborenen Muskelschwäche. Ein gutes halbes Jahr lang habe ich sie voll gestillt und sie sich anschließend selbst entwöhnen lassen. Das dauerte bei allen meinen Kindern um die drei Jahre, und auch Lena bestimmte den Tag, ab dem sie nur noch aus der Tasse trinken wollte, selbst.
Na, Mama, was jetzt?
An ihrem zweiten Lebenstag unterrichtete mich mein Mann über den Verdacht des Downsyndroms. Das sonnendurchflutete Zimmer wurde für mich dunkelviolett, von zuckenden Blitzen meines Schmerzes durchzogen. Wir hatten die Tests in der Schwangerschaft abgelehnt, auch bei den anderen Kindern. Wir hätten auch im Falle einer Behinderung nicht abgetrieben und ich bin unendlich dankbar, dass mein Mann und ich diese Einstellung gemeinsam haben. Das macht alles so viel leichter. An ihrem fünften Lebenstag lag der Befund schwarz auf weiß vor uns: Lena hatte das Downsyndrom. An diesem Tag öffnete Lena das erste Mal ihre dunklen Augen für eine längere Zeit und sah mich unglaublich intensiv und forschend an. Ich hörte förmlich ihre Frage: Na Mama, was jetzt? Was konnte ich angesichts dieses Blickes schon tun? Ich versprach ihr, immer für sie da zu sein. Und dieser magische Moment hat mich getragen durch viele dunkle Stunden.
„Ich bin schon neun Jahre und immer noch hier“
Beim Frühstück gibt es die üblichen Diskussionen um ein neues Handy, das sich Marie zu ihrem Geburtstag von uns wünscht. Lena meint schließlich, sie wolle auch ein Handy haben. Ihr Geburtstag ist eine Woche vor dem ihrer großen Schwester. Ich gebe meinem Mann zu bedenken, dass es für uns leichter wäre, Lena zu finden, wenn sie ein Handy bei sich trüge, falls sie wieder einmal ohne uns zu fragen einfach losmarsschierte. Ihr Weglaufen hat uns schon viele Suchaktionen gekostet. Ich sehe, wie es in Lena arbeitet. Sie sitzt auf ihrem Stuhl, hat die Beine wie üblich mit hinaufgenommen (was ihr in der Schule streng verboten wird, aber irgendwo muss jeder sich fallen lassen können, sie hat nun einmal ihre Muskelschwäche), kaut ihr Brötchen und denkt nach. Schließlich kommt ihre entrüstete Antwort: „Ich bin schon neun Jahre und ich bin immer noch hier!“ Unser Gelächter kann sie sich gar nicht erklären. Sie hat uns sagen wollen: Ich bin alt genug, um nicht mehr wegzulaufen, und ich bin doch immer wieder zurückgekommen.
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Lena beim Radfahren. |
Mir kommt ein Gespräch mit einer netten Ärztin in den Sinn, gleich nach Lenas Geburt. Sie wollte uns trösten, indem sie uns eine Geschichte erzählte: Alle ungeborenen Kinder warten im Himmel, bis sie an der Reihe sind, einer Familie auf der Erde zugeteilt zu werden. Nur die behinderten Kinder hätten das Privileg, sich eine Familie aussuchen zu dürfen.
Zu dem Zeitpunkt, kurz nach der Geburt, konnte mich das aber überhaupt nicht trösten. Voll Bitterkeit dachte ich an zwei mir bekannte Down-Kinder, die sich eine denkbar schlechte Familie ausgewählt hatten. Und an die neun von zehn Schwangerschaften, die mit dieser Diagnose abgebrochen werden. Inzwischen haben wir viele Familien mit kranken Kindern kennengelernt, die wir bewundern und die uns Vorbild und Weggefährten wurden. Und wir haben Lena kennengelernt, die immer noch hier ist.
„Tschüss, Mama! Ich schaff das!“ Lena gibt mir einen Kuss, dreht sich um und geht mit ihrem kleinen Rucksack allein in die Musikschule hinein. Ich bin unsicher, sie muss über einen Innenhof gehen und vier schwere Türen öffnen, die auch für mich nicht leicht aufzustoßen sind. Und dann kommen noch die Treppe und der Flur mit den vielen gleich aussehenden Türen. Sie dreht sich noch einmal um, sieht mich durch die Scheibe der Tür ihr nachblicken, runzelt die Stirn und ruft: „Geh, Mama! Ich bin schon neun!“
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Lena als Baby mit zwei ihrer Geschwister. |
Ich ducke mich, folge ihr mit großem Abstand und immer auf Tarnung bedacht und stelle mich dann auf dem Innenhof unter das zum Glück geöffnete Fenster ihres Unterrichtsraumes. Da höre ich auch schon, wie meine Kleine ihre Lehrerin freudig begrüßt.
Mama, ich schaff das
Wie viel Vertrauen kann ich in die Fähigkeit meines Kindes haben, Situationen sicher allein zu meistern? Diese Frage stellt sich bei allen Kindern, bei Lena aber noch dringender. Lena hat uns schon so oft mit ihren Kompetenzen überrascht. Ihre gesamte Entwicklung war eine Überraschung für uns.
Sie bekommt viel mehr mit, als uns manchmal lieb ist, und sie reagiert sehr schnell. Als sie noch keine zwei Jahre alt war, unterhielten mein Mann und ich uns darüber, dass wir mal wieder ins Schwimmbad fahren könnten. Lena unterbrach ihr Spiel, krabbelte ins Schlafzimmer und kam mit dem Badesachenbeutel zurück. Wir rissen die Augen auf! Sie hatte uns zugehört und verstanden!
In ihrer Entwicklung dauert vieles etwas länger: Sie lief erst mit zwei Jahren und das Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Lernen geht auch nicht so schnell wie bei den gleichaltrigen Klassenkameraden, mit denen sie gemeinsam in einer Integrationsklasse lernt. Aber sie ist es, die immer zuerst bemerkt, wenn es einem Mitglied in unserer Familie nicht gut geht.
Applaus für die Pianistin!
Für das Frühlingskonzert im Alten- und Pflegeheim hat Lenas Klavierlehrerin ein Programm aus Volksliedern zusammengestellt. Lena läuft inmitten der Schülergruppe ganz selbstverständlich in den Saal hinein. Sie ist das einzige Kind mit Behinderung, aber das bemerkt kaum jemand. Schließlich ist sie an der Reihe und trägt eifrig „Old Mac Donald“ und „Summ, summ, summ“ auf dem Klavier vor. Das Publikum aus Heimbewohnern und Eltern applaudiert. Ich denke an die Tage nach ihrer Geburt zurück. Damals hatte ich nur Schwierigkeiten auf uns zukommen sehen und niemals erwartet, dass ich einmal so stolz auf meine jüngste Tochter bin.
Birgitt Flögel
Kommentare
Claudia Z. (nicht überprüft)
Hallo, ein wirklich schöner
Hallo, ein wirklich schöner Blick in euer Leben! Auch ich kenne Lena schon sehr lange und war immer begeistert wie scheinbar locker die ganze Familie mit ihrer Behinderung umgeht. Einfach toll! Wir hatten kurzzeitig Grund zur Annahme, dass uns unsere Tochter Sophie ebenfalls mit down-syndrom zur Welt kommt. Musste sofort an euch denken und wollte schon vorbeikommen um zu erfahren, wie das Leben sich dann verändert... Schön, wie Lena sich entwickelt hat...