09.08.2017
Radsportverein vor dem Ersten Weltkrieg gegründet
Katholisches Kunstradeln
Auf den ersten Blick hat das mit Kirche nicht viel zu tun – Kunstradfahren. Doch sportbegeisterte Mitglieder der Arbeitergemeinde St. Benno in Hannover Linden entdeckten diese Sportart für sich und gründeten vor dem Ersten Weltkrieg einen Radsportverein.
„Concordia 09“ (ganz links sein Vater Hugo Koch).
| Foto: Tillo Nestmann
Um die Jahrhundertwende erlebt das Fahrrad eine Verwandlung. Aus einem schweren, unsicheren Spielzeug wird ein leichtes und sicheres Verkehrsmittel. Und es wird als Sport- und Freizeitgerät interessant - auch für katholische Arbeiter in Hannover-Linden.
Auch Radrennen wurden gefahren
Bernward Koch (80) blinzelt in die Sonne. Früher lange Jahre Mitglied des Pfarrgemeinderates, des Kirchenvorstandes und des Vorstandes der Kolpingsfamilie von St. Benno in Hannover Linden, hat er in seiner Abstellkammer etwas gefunden: jahrzehntelang verschwunden geglaubte Fotos. Bernward Koch hält eines hoch: „Das Schwarzweiß-Foto ist knapp 100 Jahre alt. Der Radfahrer links auf dem Bild ist mein Vater Hugo Koch. Er war damals bei „Concordia 09“ als Kunstradfahrer aktiv.“ Weitere Bilder zeigen Concordia-09-Mitglieder mit ihren Familien bei einer Rast in Hannovers Stadtwald Eilenriede, auf einer Tour nach Celle und beteiligt an einem Schützenumzug im Stadtteil. Dabei präsentieren sich die Radsportler in einer Vereinsuniform mit Schirmmütze und seidener Bauchschärpe. So schieben sie radelnd ein großes blumengeschmücktes Flugzeugmodell durch die Straßen.
Kunstradfahren, hin und wieder auch die Teilnahme an einem Radrennen – das ist in den 20er-Jahren Hugo Kochs Freizeitvergnügen. Er ist gelernter Stellmacher, also Konstrukteur von Kutschen und Pferdefuhrwerken. Das Leben ist für ihn nicht einfach. Denn die Stellmacherei befindet sich im Niedergang. Für Arbeiter wie Hugo Koch gibt es in der Weimarer Republik noch keine Fünftagewoche und noch keinen Urlaub. Da verkürzt ein Fahrrad den Weg zur Arbeitsstätte. Es ist ein neues Sportgerät und es macht Sonntagsausflüge möglich, die weiter gehen als Wanderungen zu Fuß.
85 Jahre nach seiner Erfindung war das Fahrrad plötzlich zu einem Verkaufsrenner geworden. Das lag an vier wichtigen Verbesserungen innerhalb von 14 Jahren: Fast zeitgleich im Jahr 1888 durch den Schotten John Boyd Dunlop und ein Jahr später durch den Franzosen Édouard Michelin wurde der Luftreifen erfunden. Im Jahr 1895 kam die Simpson-Hebelkette, die eine sichere Kraftübertragung auch bei holprigem Untergrund ermöglichte. Im Jahr 1898, zunächst durch amerikanische Firmen, ab dem Jahr 1903 auch in Deutschland durch Fichtel&Sachs, wurde die Rücktrittbremse auf den Markt gebracht. Und seit 1902 gab es die Nabengangschaltung.
Diese Erfindungen führten zum Erfolg des Sicherheitsniederrads. Sein Schwerpunkt lag tief. Es sah den heutigen Fahrrädern schon sehr ähnlich und verdrängte schnell das behäbige Hochrad. Schon bei der ersten Tour de France im Jahr 1903 war kein Hochrad mehr dabei. Im Jahr 1909 startete in Berlin das erste Sechs-Tage-Rennen auf dem europäischen Kontinent.
„Im gleichen Jahr wurde auch unser Verein „Concordia 09“ gegründet“, sagt Vereins-
vorsitzender Michael Mücke. „Unser Verein war ein fast reiner Ableger des Jungmännervereins von St. Benno.“ Die Lindener Arbeitergemeinden St. Godehard und St. Benno (heute ein Kirchort von St. Godehard) galten damals im ganzen Bistum Hildesheim als besonders sportbegeistert. Das hebt ein Bericht des katholischen Sportverbandes „Deutsche Jugendkraft“ (DJK) aus dem Jahr 1926 hervor.
Kapläne machten sich stark für den Sport
Maßgeblichen Anteil am Sportangebot haben die Kapläne. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte Kaplan Dr. Johannes Maring als Präses des Katholischen Arbeitervereins Linden (1908) die Weichen gelegt. Die Nachfolger bauen darauf auf. St. Bennos Katholiken unterschiedlichen Alters treiben Leichtathletik, sie turnen, spielen Fuß-, Hand- und Faustball und schwimmen. Ab 1927 hat die Arbeitergemeinde sogar eine im DJK erfolgreiche Fechtabteilung. Der Radsport allerdings fehlt im Angebot. Nur Radwandertouren finden statt, an denen auch die Kapläne teilnehmen.
sich bei einem Schützenfest in Uniform und mit Standarte.
| Foto: privat
Die Radsportbegeisterten gründen deshalb zusammen mit Nichtgemeindemitgliedern einen eigenen Radsportverein. „Damals wurden weniger Rennen gefahren. Vor allem wurde mit dem Rad geturnt. Auch Langsamfahren oder Radball waren sehr beliebte Disziplinen“, sagt Michael Mücke. Man trainiert in der Turnhalle einer Schule in der Salzmannstraße. Die Spezialfahrräder baut in den 20er- und 30er-Jahren das St.-Benno-Vereinsmitglied Herbert Aschemann in seiner Werkstatt zusammen.
Die alten Fotos, die Bernward Koch vor ein paar Tagen zufällig in seiner Abstellkammer gefunden hat, sind für den Vereinsvorsitzenden Mücke ein großes Glück. Er sagt: „Endlich Bilder! So können wir einen Blick in unsere Geschichte werfen. Durch die Bomben im Krieg war unser Vereinsarchiv komplett verbrannt. Die Lücke konnte auch nicht durch Kopien aus Privatbesitz ergänzt werden. Wo man auch fragte: Es war nichts mehr da! Nun diese Überraschung! Das ist herrlich!“
Von Tillo Nestmann