23.04.2014

Abschluss der Serie zu den sieben Werken der Barmherzigkeit heute

Quer durch die Bibel gelesen

Tote bestatten, Hungrige speisen, Kranke pflegen, Nackte kleiden, Gefangene besuchen, Fremde beherbergen, Durstige tränken: Sieben Geschichten haben wir Ihnen in den vergangenen Wochen erzählt – von Menschen, für die diese Werke der Barmherzigkeit selbstverständlich sind.

In den vergangenen Wochen haben uns diese Heiligen durch unsere Serie „Die sieben Werke der Barmherzigkeit“ begleitet: St. Elisabeth, Rebekka, St. Bernhard, St. Martin, St. Johannes von Gott, St. Johannes von Matha und Tobias.

Mehr noch: Sie bestatten nicht nur – sie trösten. Sie geben nicht nur Brot – sondern auch Zuwendung. Sie pflegen nicht nur – sondern ermutigen. Sie verschenken nicht nur Kleidung – sie heißen willkommen. Sie gehen nicht nur zu Gefangenen – sie unterstützen beim Weg zurück in die Freiheit. Sie geben nicht nur zu trinken – sondern auch ein Wort. Sie erfüllen die Hoffnung Jesu: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk 6,36)

„Aber für mich ist das doch eine Nummer zu groß“, mögen Sie jetzt denken. „Ich finde das Engagement toll, aber ich könnte das nicht.“ Ein zweiter Gedanke, der sich gerade bei Ihnen breit macht. Könnten Sie das wirklich nicht? Muss es immer Suppenküche, Kleiderkammer oder Gefängnis sein? Wie ist das mit den Werken der Barmherzigkeit im Alltag?

Der heilige Thomas von Aquin beschreibt einen Barmherzigen als jemanden, dessen Herz, elend durch die Trauer über fremdes Elend wie über eigenes Elend, angeregt wird, zur Überwindung tätig zu werden. In dieser Tradition kennt unsere Kirche neben den von uns in der Serie entfalteten leiblichen Werken der Barmherzigkeit auch die geistlichen: Unwissende lehren, Zweifelnde beraten, Trauernde trösten, Sünder zurechtweisen, Beleidigern gern verzeihen, Lästige geduldig ertragen, für Lebende und Verstorbene beten.

Sünder zurechtweisen, Beleidigern gern verzeihen: Sind das noch Worte und Werke, die wir einfach so in unseren Alltag übersetzen können? Und das in einer Gesellschaft, in der unsere Kirche immer mehr Bindung verliert? Noch dazu in der Diaspora.

Gerade die Erfahrung der Diaspora, gerade die Erfahrung, Kirche in einer Nachbarschaft zu sein, in der 40 Jahre der Atheismus vorherrschende Ideologie war, entschloss sich das Bistum Erfurt zu einem bemerkenswerten Schritt. Als im Jahr 2006/2007 der 800. Geburtstag der heiligen Elisabeth von Thüringen gefeiert wurde, stellte der heute emeritierte Bischof Joachim Wanke die „Sieben Werke der Barmherzigkeit für Thüringen heute“ vor. Ihnen ging eine Umfrage voraus, die ein überraschendes Ergebnis mit sich brachte. Barmherzigkeit heute sei einem Menschen zu sagen: Du gehörst dazu. Ich höre dir zu. Ich rede gut über dich. Ich gehe ein Stück mit dir. Ich teile mit dir. Ich besuche dich. Ich bete für dich.

Barmherzig: sich dem Anderen zuwenden

Diese „neuzeitlichen“ Werke der Barmherzigkeit, geschrieben für ein Land, dem mehr und mehr der soziale Kitt verloren geht, brauchen im Alltag erst einmal keine Suppenküchen oder einen flammenden Sermon gegen Sünde und Sünder. Sie wenden sich dem Anderen zu. Sie stemmen sich gegen die Ideologie einer Gesellschaft, die eher auf den Ellenbogen als auf die begrüßende oder helfende Hand setzt. Und sie passen in unsere Nachbarschaft, in unser Arbeitsleben, in unsere leiblichen Familien.

Du gehörst dazu: Ist es nicht genau das, was aus dem Besuch von Jesus bei Zachäus spricht? Der Evangelist Lukas (19, 1–10) berichtet von einem deutlichen Prostest, als Jesus ausgerechnet bei einem Zöllner einkehrte. Einem Sünder, der korrupt war und sich bereichert hat. Einer, der in Jericho ein Außenseiter war, verachtet, isoliert. Ein  Kollaborateur der römischen Besatzungsmacht. Bei ihm kehrt Jesus ein und zeigt damit: Du gehörst dazu. Haben wir Angst zu „Außenseitern“ zu gehen?

Zuhören öffnet Türen

Ich höre dir zu: „Wer Ohren hat, der höre“ heißt es im  Matthäus-Evangelium (13,9). Zuhören, so scheint es, ist ein seltenes Gut geworden. Im Alten Testament, in den Sprüchen Salomons, ist dieser Vers zu finden: „Gibt einer Antwort, bevor er gehört hat, ist es Torheit und Schande für ihn“ (Spr 18,13). Ein offenes Ohr für andere ist ein Werk der Barmherzigkeit. Zuhören erschließt die Lebenswirklichkeit des Anderen, reißt aus der Rolle des Zuschauers heraus. Zuhören öffnet Türen.

Ich rede gut über dich: „Gott, der Herr, gab mir die Zunge eines Jüngers, damit ich verstehe, die Müden zu stärken durch ein aufmunterndes Wort. Jeden Morgen weckt er mein Ohr, damit ich auf ihn höre wie ein Jünger“ – ein Wort des Propheten Jesaja (50,4), das dritte Lied vom Gottesknecht. Barmherzigkeit ist, das haben unsere Beispiele gezeigt, immer mehr als nur ein Werk, es ist auch eine Haltung der Wertschätzung – auch und gerade durch gutes Reden. Vor allem in einer Gesellschaft, in der sich einige dadurch zu erhöhen meinen, dass sie andere niedermachen.

Ich gehe ein Stück mit dir: Das ist die Geschichte des Ostermontags, der Jünger von Emmaus. Sie sind mit Jesus unterwegs, voll Trauer, erkennen ihn aber erst, als er das Brot mit ihnen bricht – und sehen ihn dann nicht mehr. Doch, wie im Lukas-Evangelium zu lesen ist, „brannte ihnen das Herz“ (24,32).

Neuer Mut, neue Orientierung. Dadurch, dass einer ein Stück mit ihnen ging. Nicht mehr, nicht weniger.
Ich teile mit dir: War es Mahatma Ghandi, der gesagt hat: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier“? Anhäufen – das ist viel zu oft Ausdruck unseres Lebenstils. Teilen hilft Menschen in Not. Aber Teilen befreit auch uns selbst: „Vergesst nicht, Gutes zu tun und mit anderen zu teilen; denn an solchen Opfern hat Gott Gefallen“ (Hebr 23,16).

Ich besuche dich. „Herr, ich habe keinen Menschen“: Das ist die Klage des Kranken am Teich Betesda (Johannes 5,7). Nicht der Schmerz, nicht die Lahmheit. Jesus heilt ihn – auch am Sabbat. Zwar kann Zuspruch allein kein körperliches Leiden heilen, er kann seelische Folgen mildern: die Angst vor Einsamkeit, die Furcht, vergessen zu sein.

Gebet ist Gespräch mit Gott

Ich bete für dich. „Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet“, sagt Jesus (Mk 7,7). Das Gebet ist unser Gespräch mit Gott. Für andere. Für uns. Für die Welt, in der wir leben. Beten hilft – ein Werk der Barmherzigkeit.

Sieben leibliche Werke. Sieben geistliche Werke. Und sieben „neuzeitliche“ Werke. Alles Barmherzigkeit. Da ist was für Sie dabei. Denn: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt, 25,40).

Rüdiger Wala