28.09.2017

Thora contra Marx

Glaubenstreue Juden hatten nach der russischen Oktoberrevolution unter der Verfolgung durch Juden zu leiden, die sich dem Kommunismus angeschlossen hatten. Doch der Glaube siegte und die Synagogen erstanden wieder neu. 

Rabbiner Benjamin Wolff (40) zeigt im Familienbuch
seiner Frau auf deren erschossenen Großonkel
Avram Friedman.|Foto: Nestmann

Schon bald nach der Revolution kommt es zu Schließungen von Synagogen und religiösen Schulen. Die Kinder werden in den staatlichen Schulen zum Atheismus erzogen, das Einhalten religiöser Gebote wird immer mehr erschwert. Und immer wieder kommt es zu Verhaftungen aus religiösen Gründen. „Die Geheimpolizei Tscheka hatte extra eine jüdische Abteilung. Aus strenggläubigen jüdischen Familien stammende, aber vom Glauben abgefallene Geheimpolizisten verfolgten die glaubenstreuen Juden“, sagt Benjamin Wolff. Der Rabbiner der chassidischen Chabad-Lubawitsch-Synagoge in Hannover-Kleefeld kann das anhand der Familiengeschichte seiner Frau belegen.

Grundlagen des Judentums weitergeben

„Hier in diesem Buch, es heißt „Kampf und Sieg“, hat Aaron Chasan, der Großvater meiner Frau, alles aufgeschrieben“, sagt Wolff. In Hannover haben Benjamin und seine Frau Schterna Wolff im Jahr 2005 als „Schluchim“ (Gesandte) des Rebben Menachem Mendel Schneerson ein religiöses Zentrum gegründet. Aufgabe dieses Zentrums ist es, den aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion kommenden Juden die einfachsten Grundlagen des Judentums zu vermitteln. Denn die meisten sind als Atheisten aufgewachsen und bringen außer einem jüdisch klingenden Familiennamen nichts mit.

Osteuropa galt vor der Oktoberrevolution und dem Holocaust weltweit als das Zentrum jüdischer Glaubenstreue überhaupt. „In den engen Schtetln, kleinen jüdischen Siedlungen, waren die Juden zwar arm und unterdrückt, aber zugleich konnten sie hier ihr Glaubensleben entfalten“, sagt Wolff.

Es sind Söhne und Töchter von gläubigen Juden, die den geistlichen Führer der Chabad-Bewegung, Rabbi Josef Jitzchak Schneersohn, im Jahr 1927 verhaften und ins Schpalerno-Gefängnis in Leningrad bringen. Er wird zum Tode verurteilt, dann zu drei Jahren Verbannung begnadigt und schließlich aufgrund internationalen Protestes freigelassen. Schneersohn geht über Lettland und Polen in die USA.

Erst verprügelt, dann erschossen

Für die Daheimgebliebenen wird es immer härter. Wolff erzählt: „Der Urgroßvater meiner Frau hieß Susia Friedman. Er war 1936 in Odessa der letzte Rabbiner der letzten noch offenen Synagoge. Aaron Chasan, ein Schwiegersohn Friedmans, berichtete über eine besondere Begegnung des Rabbiners mit seinem Sohn Avram Friedman. Der Rabbiner lag krank auf seinem Bett, als sein Sohn blutend, grün und blau geschlagen, ins Zimmer kam: „Ich bin von der Geheimpolizei befragt worden. Warum ich meine Kinder nicht zur sowjetischen Schule schicke, wollten sie wissen.“

„Für uns gläubige Juden ist es besser erschossen zu werden, als die Kinder in sowjetische Schulen zu schicken“, sagte der alte Rabbi. So ist es dann auch gekommen: Avram Friedman schickte seine Kinder weiterhin nicht zur sowjetischen Schule, wurde noch einmal zum Verhör geholt und dann – wurde er erschossen.“ Wolff zeigt mit einem Finger auf ein Bild in dem Buch: „Der hier, das ist Avram Friedman, der erschossene Großonkel meiner Frau.“

Die glaubenstreuen Juden treffen sich weiterhin zum Gebet. Um sich Mut zu machen, singen sie gemeinsam das Lied „Wir werden im Feuer nicht verbrennen und im Wasser ertrinken wir nicht“.  

Der Beachter des Sabbat-Gebotes

Als glaubenstreuer Jude zu überleben ist nahezu unmöglich geworden. Fliehen, wenn‘s geht, das ist die Devise. Über die Folgen, wenn‘s schief geht, sagt Benjamin Wolff: „Mein vor vier Jahren gestorbener Schwiegervater Moische Grinberg hatte nach dem Krieg versucht, aus der Sowjetunion zu flüchten. Er wurde erwischt und 1949 in Omsk zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Durch Stalins Tod kam er nach sieben Jahren frei.

Er hat in der ganzen Zeit nie etwas Unkoscheres gegessen und am Sabbat nicht gearbeitet. Wenn er die Arbeit verweigert hatte, kam er für fünf Tage in den Karzer. Dann arbeitete er zwei Tage, dann war wieder Sabbat, und er kam, weil er wieder verweigert hatte, in den Bau... Ein Jahr lang ging das so, bis der Lagerleiter ihn zur Seite nahm und ihm sagte: „Du brauchst am Sabbat nicht zu arbeiten, nur mit den anderen raus zur Arbeit gehen. Mehr nicht!“ Mein Schwiegervater hatte gesiegt.“

Das Familienbuch von Schter­na Wolffs Großvater war nach der Ausreise der Familie nach Israel 1966 gedruckt worden. Sein Titel „Kampf und Sieg“ hat auch mit der Synagoge in Odessa zu tun. Das Gotteshaus, in dem Schterna Wolffs Urgroßvater Susia Friedman als letzter Rabbiner Odessas gedient hatte, war 1937 geschlossen worden. Bis 1990 diente es als Spanfaserfabrik. Doch seitdem ist es wieder eine Synagoge. Sie trägt den Namen Schumrei Schabbes – Beachter des Sabbatgebotes. Ihr Rabbiner ist Avram Wolff, ein Vetter Benjamin Wolffs. Die Rebbezin (Frau des Rabiners) ist Susia Friedmans Urgroßenkelin und Schterna Wolffs Schwester Chaya.

Tillo Nestmann

 

 

Vom Schtetl zur Spitze der Sowjetmacht

Zur Zarenzeit waren die Juden in vieler Hinsicht benachteiligt gewesen. Außer in dem Gebiet des früheren Königreichs Polen, wo sie auch in Städten wohnen konnten, durften sie ihre speziellen Siedlungsdörfer nicht verlassen. Wohnrecht in Städten gab es sonst nur per Sondergenehmigung für Ärzte, Kaufleute Erster Klasse und Prostituierte. Juden konnten keine Beamten werden und waren häufig der Schikane durch Polizisten ausgesetzt.
Durch die Oktoberrevolution öffneten sich plötzlich für Juden ungeahnte Chancen. Zwar flüchteten etwa 200000 bürgerliche Juden in der Zeit des Bürgerkrieges aus dem Land, aber besonders jüngere Juden begeisterten sich für den Kommunismus.

Schon bald nach der Oktoberrevolution waren in nahezu allen Führungsbereichen von Staat und Partei Juden überrepräsentiert. Im ersten Politbüro der Kommunistischen Partei im Herbst 1917 waren von den sieben Mitgliedern vier Juden. Meist trugen die jüdischen Bolschewiki revolutionäre Decknamen oder hatten ihre Namen russifiziert. Staatsoberhaupt der UdSSR war von November 1917 bis März 1919 Jakow Michailowitsch Swerdlow, geboren als Michaimowitsch Gauchmann. In kurzer Zeit wechselnd bekleidet Leo Trotzki (geboren als Lew Dawidowitsch Bronstein) die Funktionen eines Volkskommissars für Äußeres, Kriegsangelegenheiten, Ernährung, Transport, Verlagswesen und ist Organisator der Roten Armee.

Maxim Maximowitsch Litwinow (Geburtsname: Meir Henoch Mojszewicz Wallach-Finkelstein) ist von 1933 bis 1939 sowjetischer Außenminister. Lasar Moissejewitsch Kaganowitsch (geboren mit Familiennamen Kogan) gehört als Jude sogar zum hoch angesehenen Geschlecht der Kohanim, der Priesterschaft, die nach Wiederkunft des Messias im wiedererrichteten Tempel Gott die Opfer darbringen darf. Bei den Bolschewiki bringt er es zum Politbüromitglied. Vorsitzender der Kommunistischen Internationale ist bis 1926 Grigori Jewsejewitsch Sinowjew (eigentlich Owsej-Gerschon Aronowitsch Radomylski-Apfelbaum), der zugleich Politbüromitglied ist. Sein Nachfolger ist Lew Borissowitsch Kamenew (Geburtsname: Leon Rosenfeld), Politbüromitglied und stellvertretender Vorsitzender des Rates der Volkskommissare.
 

Stieg hoch auf und fiel später in Ungnade: Leo Trotzki
(hier mit Ehefrau Natalja Sedowa). | Foto: picture-alliance

Juden dominierten den Bereich der Kulturarbeit, aber auch den Terrorapparat der Geheimpolizeit Tscheka.  Vom Januar 1935 bis Januar 1938 waren 50 Prozent der Kader des NKWD (Nachfolgeorganisation der Tscheka) Juden. Dagegen macht laut Zensus der Sowjet­union aus dem Jahr 1939 der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung nur 1,8 Prozent aus.

Es gibt auch Juden, die aus verschiedenen Gründen die Bolschewiki bekämpfen. Hierzu zählen der junge, zum russisch-orthodoxen Glauben konvertierte Kadett Leonid Kannegiesser, der am 30. August 1918 den jüdischen Chef der St. Pe­tersburger Tscheka, Moissei Solomonowitsch Urizki erschoss. Kannegiesser, der zarentreu war, war über den hohen Anteil an Juden innerhalb der Tscheka entsetzt. Er erschoss den Tscheka-Chef, um befreundete Offizierskameraden zu rächen, die von Urizki liquidiert worden waren, und „die Ehre des Judentums wiederherzustellen.“

Die Sozialrevolutionärin Fanny Kaplan schoss am 30. August 1918 auf Lenin und traf ihn zweimal. Am 3. September 1918 wurde sie in Moskau hingerichtet.

In der späten Phase der Sowjetunion sind es vor allem jüdische Autoren, welche die antikommunistische Untergrundliteratur „Samisdat“ repräsentieren.