04.10.2017
Trost trotz Terror
Nahezu jeder, der aus der ehemaligen Sowjetunion stammt, hat in seinem Stammbaum Verfolgte, Deportierte, Ermordete. In vier Folgen haben Menschen, die heute in Hannover leben, über die Schicksale ihrer Angehörigen berichtet. Wie gehen sie selbst mit den Erfahrungen um?
Eduard Murschel (59) kniet vor dem Marienaltar in der Kirche St. Franziskus in Hannover-Vahrenheide. Der Weg zur Kirche fällt dem früheren Bergmann oft nicht leicht. Denn er leidet an einer Steinstaublunge. Seit Kindesbeinen ist er ein Verehrer der Gottesmutter. Am Marienaltar betet er für seine verstorbenen Eltern und Großeltern, die im Jahr 1941 von Stalin als Zwangsarbeiter nach Sibirien in die „Trud-Armee“ eingezogen oder nach Kasachstan deportiert worden waren.
Messintentionen für die Vorfahren
Zu Ostern und Weihnachten bestellt Eduard Murschel immer Messintentionen für seine evangelische Großmutter Emilia. Eduard Murschel hat diese Großmutter nie kennengelernt. Er erfüllt mit den Messintentionen ein Vermächtnis seines Großvaters Reinhold Murschel: „Vergiss nie deine Oma, die im Winter 1945 kurz vor Ende des Krieges in Swerdlowsk verhungert ist! Denn sie hat ihr letztes Stück Brot ihren Kindern gegeben, um sie zu retten.“ Der Großvater und ein Onkel Murschels waren nicht dabei. Denn sie schufteten als Arbeitssklaven bei der Trud-Armee. Aber Emilia Murschel hatte mit ihrem selbstlosen Einsatz die Kinder retten können. Sie überlebten.
Für Ingo Rauzow (59), den seit 1990 in Deutschland lebenden ukrainischen Dolmetscher, geht es um Wahrheit und Aufklärung: „Vor ein paar Monaten sind endlich die ukrainischen KGB-Archive geöffnet worden. Ich habe den Antrag auf Nachforschung gestellt. Ich will endlich wissen, was in der Hungersnot 1932/33 mit meinen Onkeln, Tanten und all den anderen Verschwundenen in dem Dorf Stara Werischakriwka passiert ist.“
Rabbiner Benjamin Wolff (40) in Hannover-Kleefeld will nur an die Zukunft denken: „Avram Friedman, der Großonkel meiner Frau, der 1936 in Odessa erschossen worden ist, weil er seine Kinder nicht auf eine sowjetische Schule schickte, war kein Held. Er war ein gläubiger Jude, der gegenüber Gott seine Pflicht getan hat. Das Problem der Spitzel war in den 60er- und 70er-Jahren in den Gemeinden in Israel noch akut. Mit den Auswanderern aus der Sowjetunion kamen damals auch welche, die, meist nach Erpressung, die eigenen Gemeindemitglieder an den sowjetischen Geheimdienst verraten hatten. Heute hat sich das Problem erledigt.“
del: Olha Köpp
Geständnis kurz vor Krebstod
Sofia Gensch (80), die in ihrer Gemeinde St. Godehard gern zum Rosenkranzgebet geht, bewegt bis heute eine Begegnung im Jahr 1955. Damals bat der Verräter ihres Vaters ihre Mutter um Verzeihung. Der Vater war 1937 aufgrund einer anonymen Anzeige als Volksfeind zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden und verschwand auf Nimmerwiedersehen. „Anni, bitte vergib mir! Ich war‘s! Ich hab‘ den Georg angezeigt! Mit mir ist es aus! Hab‘ Kehlkopfkrebs! Ende! Nichts mehr essen, nichts mehr trinken! In zwei oder drei Tagen steh‘ ich vor Gott!“, wimmerte der ehemalige Komsomolze. „Meine Mutter sagte zu ihm: „Wenn Dir Gott verzeiht, dann ist alles verziehen.“ Sie hat das getan, was im Vaterunser steht: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und das versuche auch ich zu beherzigen.“
Olha Köpp (45) aus der Ukrainisch-Unierten Gemeinde St. Wolodymyr ist immer noch voller Freude über den Wandel in der Ukraine: „Als unsere Ukrainisch-Unierte Kirche im Jahr 1989 wieder zugelassen wurde, war ich eine junge Germanistikstudentin in Tschernowitz. Ich entdeckte dort eine alte Ukrainisch-Unierte Kirche, die aber verschlossen war. Ich wartete, da es Sonntag war, vor der Eingangstür, und dachte mir: Mal sehen, was passiert. Auf einmal kam noch eine Person und noch eine... Schließlich waren wir 40 Männer und Frauen und wir blieben stehen, bis das Gotteshaus von den Behörden aufgeschlossen wurde. Durch solche stillen Demonstrationen erzwangen wir die Rückgabe unserer Kirchen. Es gab zwar nur noch eine Handvoll alter Ukrainisch-Unierter Priester, die im Untergrund ausgeharrt hatte, aber es meldeten sich immer mehr, die zwar als Russisch-Orthodoxe Priester geweiht waren, aber im Herzen Ukrainisch-Unierte geblieben waren. Sie stellten den Antrag auf Konversion.
Alte Wallfahrtswege wiederentdeckt
Junge Leute brachten liturgisches Gerät, das vor Jahrzehnten ihre Großeltern vor den Kommunisten versteckt hatten, in unsere Kirchen zurück. Die Wallfahrtswege wurden wieder entdeckt und unser alter Wallfahrtsort Sarvanyzja wieder hergerichtet. Auf den Prozessionen wurden unsere alten ukrainischen Kirchenlieder gesungen. Aus dem Ausland kamen Ukrainisch-Unierte Theologen, und die Priesterseminare füllten sich mit jungen Männern, oftmals Spätberufenen. Auch mein Bruder Michail, damals 27 Jahre alt und Inhaber einer gut gehenden Tierarztpraxis, wurde Priester. Er ist heute Pfarrer in der Kleinstadt Bereschany bei Tarnopol. Jeder Sonntag fordert von ihm einen vollen Einsatz für 17 Stunden. Er feiert fünf Gottesdienste und hört zwischen den Messen Beichte. Bei jeder Messe ist die Kirche voll.“
Benjamin Wolff.
Der Glaube als Kompass
Olha Köpp, die mit ihrem deutschen römisch-katholischen Mann und den beiden gemeinsamen Töchtern Sonntag für Sonntag zwischen einer Messfeier in einer Römisch-Katholischen und einer in der Ukrainisch-Unierten Kirche St. Wolodymyr wechselt, ist ein Mentalitätsunterschied aufgefallen: Es geht um den Spaß. Sie sagt: „Nach einer Messe oder im Pfarrheim einer Römisch-Katholischen Kirche höre ich oft, dass die Messe und der Glaube überhaupt Spaß machen soll. Uns hat der Glaube niemals Spaß gemacht. Er war uns ein kostbarer Kompass für den Weg nach Gut und Richtig in einem Meer der Lüge und Gewalt.“
Tillo Nestmann