22.01.2013
Anzahl der Geschwister für gute Entwicklung nicht entscheidend
Typisch Einzelkind? Von wegen!
Jedes vierte minderjährige Kind in Deutschland ist ein Einzelkind. Wächst da eine Generation von Tyrannen und Egoisten heran? „Nonsens!“, meint der Pädagoge und Buchautor Wolfgang Endres (St. Blasien). Im Interview entkräftet der Geschwisterforscher Vorurteile.
Geschwisterkinder haben zwar immer jemanden zum Toben und Spielen, doch für die Einübung des Sozialverhaltens sind gleichaltrige Freunde unerlässlich. Foto: Christian Schwier/fotolia |
Gibt es das typische Einzelkind, das nicht teilen kann, unsozial, verwöhnt und selbstbezogen ist?
Nein, das sind Klischees. Es gibt ebenso viele Einzelkinder, die dem überhaupt nicht entsprechen, und umgekehrt genauso viele Geschwisterkinder, die sich vermeintlich wie Einzelkinder benehmen und verhalten. Die mit Ellbogen kämpfen oder sich wie eine Diva aufführen.
Woran liegt das?
Jedes Kind ist einmalig. Seine Entwicklung hängt nicht davon ab, ob es zehn Geschwister hatte oder keines. Bedeutsamer ist es, wie die Familienmitglieder miteinander umgehen, wie das einzelne Kind in seiner Individualität gefördert wird und, ob es die Zuwendung erfährt, die es braucht. Ein falsch verstandener Gerechtigkeitssinn mit einem zu großen Achten darauf, dass jeder das Gleiche bekommt, kann kontraproduktiv wirken. Wenn Kinder sich die Zuwendung, die sie brauchen, erkämpfen müssen, führt das zu Machtkämpfen und Rivalitäten.
Warum halten sich die Klischees so hartnäckig?
Weil sich im Kleinen immer wieder Merkmale zeigen, die genau diese Einschätzung bedienen. Etwa auf dem Spielplatz, wenn ein Kind einem anderen nicht seine Schippe abgeben will, dann heißt es schnell: „Das ist bestimmt ein Einzelkind, die können nicht teilen.“ Stimmt das dann auch noch, fällt die Schublade wieder zu. Das gilt auch für andere Klischees, etwa über Spießbürger, die Jugend oder den Deutschen an sich. Der Mensch hat gern recht. Dort, wo er seine Annahmen bestätigt findet, schaut er gern hin, das registriert er intensiver. Sich jedoch einen Fehler einzugestehen, fällt schwer.
Woher kommen die Vorurteile?
Sie reichen zurück bis ins 19. Jahrhundert. Damals waren Familien mit acht Kindern der Normalfall. Einzelkinder fielen also auf und gerieten in eine Außenseiterposition. So bezeichnete sie etwa der amerikanische Psychologe Stanley Hall pauschal als aggressiv und zänkisch. In abgeschwächter Form halten sich solche Vorurteile bis heute – angereichert mit Stammtischparolen und subjektiven Erfahrungen. Meiner Ansicht nach ist es wichtig, damit aufzuräumen. Denn eine Reihe von neueren Studien widerlegt diese Vorurteile eindeutig.
Befinden sich Einzelkinder denn nicht in der Prinzenrolle?
Sicher – das Einzelkind kann eine Förderung sehr viel intensiver erfahren und muss nicht abwarten, weil ein Geschwisterkind auch noch etwas will. Folglich wird ihm systematisch und rasch geholfen. Daher sind Einzelkinder statistisch gesehen besser in schulischen Leistungen als Geschwisterkinder. Viele können sich auch allein gut beschäftigen. Ganz nach dem Motto: Not macht erfinderisch. Wenn ich auf mich gestellt bin, dann werde ich kreativ, dann fällt mir etwas ein. Doch das enge Zusammensein mit den Eltern hat auch Nachteile.
Wo wirkt es sich nachteilig aus?
Das fängt an mit der Sprache. Einzelkinder übernehmen die Formulierungen von Erwachsenen und wirken häufig schon als Kleinkind altklug. Das verliert sich aber, wenn sie mehr Kontakt zu Gleichaltrigen bekommen. Dann lernen sie schnell, sich dem Gegenüber anzupassen.
Zudem: Einzelkinder haben von klein auf an erfahren, dass sie der Nabel der Welt sind. Von daher beziehen manche auch negative Stimmungen direkt auf sich. Etwa wenn sie in einen neuen Kreis kommen, und da wird gelacht. Dann vermuten sie, dass sie ausgelacht werden. Und nicht zu unterschätzen: Einzelkinder haben gegenüber ihren Eltern keine Pufferzone. Sie sind ihren Wünschen und Forderungen ausgeliefert. So übt die übereifrige Mutter mit einem Einzelkind vielleicht unendlich viel länger für eine Klassenarbeit, als sie es tun würde, wenn sie mehrere Kinder hätte. Auch im Streit mit den Eltern können Einzelkinder den Kürzeren ziehen oder geraten zwischen die Stühle.
Welche Erkenntnisse gibt es zu den Unterschieden von Familien mit nur einem Kind und mehreren Kindern?
Wenn mehrere Kinder in der Familie leben, gibt es vielerlei Einschränkungen – angefangen beim Aufteilen von Zeit bis hin zu den finanziellen Mitteln. Die Spielräume für Einzelkinder sind da natürlich größer. Daher spielen in den Familien mit Geschwistern auch andere Werte eine Rolle.
Worin unterscheidet sich das Wertesystem?
Eltern von Einzelkindern legen in ihrer Erziehung größeren Wert auf Schulleistungen, Selbstvertrauen und Verantwortungsbewusstsein. Bei Familien mit mehreren Kindern stehen aus rein praktischen Gründen, damit das Zusammenleben reibungslos funktioniert, Pflichtbewusstsein, Selbstständigkeit und gute Manieren an erster Stelle.
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Wolfgang Endres ist Pädagoge und leitet seit 1973 das Studienhaus St. Blasien zur Lehrerfortbildung. |
Worauf sollten Eltern von Einzelkindern besonders achten?
Dass sich ihre Kinder in der Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen üben können. Also: Nicht nur Geburtstagspartys miteinander feiern, sondern den intensiven Kontakt mit anderen Kindern unterstützen. Etwa durch Übernachtungen oder gemeinsame Ferien. Zugleich sollten sie aufpassen, dass sie ihnen Konflikte nicht vorschnell ersparen. In dem Sinne, dass ihre Kinder nach Lust und Laune Gruppen wie den Sport- oder Musikverein verlassen können, nur weil ein anderes Kind vermeintlich „blöd“ ist. Geschwister können ja auch nicht, wenn es in der Familie schwierig wird, einfach aussteigen und sagen: „Jetzt habe ich keine zwei blöden Brüder mehr.“ Einen Streit auszufechten, Lösungen zu finden und sich wieder zu vertragen, ist eine wichtige Erfahrung.
Können Freunde Geschwister ersetzen?
Ich würde umgekehrt formulieren: Geschwister können keine Freunde ersetzen. Ein Kind, das nur innerhalb der Geschwisterreihe soziale Fähigkeiten einüben könnte, wäre genauso benachteiligt. Es braucht Kontakte zu Gleichaltrigen. Die Form des Zusammenseins, des Spielens und der Auseinandersetzung vollzieht sich außerhalb der Familie in einer ganz anderen Dimension und ist unerlässlich. Denn hier hat ein Geschwisterkind auch die Chance eine Rolle, die es vielleicht in der jeweiligen Familienkonstellation hat, abzulegen. Ich denke da an das „Schwarze Schaf“ oder an „Papas Liebling“.
Können Sie Leitsätze nennen, wie sich Eltern idealtypisch gegenüber ihrem Einzelkind verhalten?
Schwierig, denn ich sehe keinen Unterschied zwischen den Empfehlungen, die ich auch Eltern mit mehreren Kindern geben kann. Alle Kinder müssen soziale Kompetenzen erlernen, wie: respektvoll mit anderen umzugehen, rücksichtsvoll und hilfsbereit zu sein, Konflikte friedlich zu lösen, andere Kinder zu tolerieren, teilen zu können. Für mich lautet die Hauptaussage: Jedes Kind ist einmalig. Anstatt nach Unterschieden zu suchen, sollten wir uns darauf fokussieren, die Lust auf Familie zu steigern. Schließlich leben in nur einem Drittel aller deutschen Haushalte überhaupt noch Kinder. Man sollte Familien nicht gegeneinander aufrechnen – egal ob Ein-Kind-Familie, Großfamilie, Ein-Elternteil- oder Patchworkfamilie. Für mich sind das alles Familien mit Kindern, die es zu fördern gilt. Damit Eltern erfahren, dass es eine Freude und Bereicherung ist, Kinder zu haben.
Interview: Heike Sieg-Hövelmann