06.09.2017
Verschleppt und erschossen
Eduard Murschel (59) und Sofia Gensch (80) tragen schlimme Familiengeheimnisse über den Terror in sich – Folgen der russischen Oktoberrevolution vor 100 Jahren. Manches davon haben sie erst als Erwachsene erfahren. Denn lähmende Angst vor der Geheimpolizei verschloss Eltern und Großeltern den Mund.
vor 80 Jahren von der Tscheka abgeholten Vaters
Georg Sander. | Fotos: Tillo Nestmann
Sofia Gensch aus Hannover-Badenstedt sitzt in ihrer Wohnung vor ihrem Herrgottswinkel. In der einen Hand hält sie ein Porträtfoto, in der anderen ein amtliches Schreiben des Archivs der sowjetischen Geheimpolizei KGB. Sofia Gensch sagt: „Der Mann auf dem Foto ist Georg Sander, mein Vater. Es ist nach seiner Festnahme im Juni 1937 aufgenommen worden und das einzige Foto, das es von ihm gibt. An meinen Vater habe ich keine Erinnerung. Denn im Juni 1937 war ich ein Baby im Alter von fünf Monaten. Damals hatten die Tschekisten alle Unterlagen und Fotos der Familie beschlagnahmt. Erst als ich 56 Jahre alt war, im Jahr 1993, da wurden nach dem Ende der Sowjetunion die Archive des Geheimdienstes geöffnet. So habe ich damals Informationen über meinen Vater bekommen. Angeheftet war ein Passfoto von ihm, und dies hier ist die Vergrößerung.“
Ein „Volksfeind“, weil er geschimpft hatte
Sofia Genschs Vater, der Kolchosenmaschinist Georg Sander, war am 23. März 1938 in Saratow als „Volksfeind“ zu zehn Jahren Zwangsarbeit ohne Kontakt zu Familie und Heimatort verurteilt worden. Der Grund: Im Juni 1937 hatte er in seinem Dorf Schirokopolje (Oblast Saratow) zusammen mit anderen Kolchosarbeitern geschimpft, weil sie schon mehrere Monate keinen Lohn erhalten hatten.
Auf eine anonyme Anzeige hin wurde er festgenommen. Sofia Gensch sagt: „Meine Mutter sagte mir erst hier in Hannover wenige Monate vor ihrem Tod, dass sie meinen Vater kurz vor seiner Verurteilung noch im Gefängnis Saratow besucht hatte. Er habe fürchterlich ausgesehen, Hände und Gesicht blutverkrustet. Er sagte zu meiner Mutter: „Anni, warte nicht auf mich! Denn ich habe unterschrieben, dass ich ein Trotzkist bin!“ Er hatte der Folter nicht mehr standhalten können und wusste, dass es keine Rettung mehr für ihn gab.“
Um sich und ihr ein Jahr altes Kind zu retten, muss Sofia Genschs Mutter sich von ihrem Mann lossagen, ihren Mädchennamen wieder annehmen. Sie wird deshalb nicht zusammen mit dem Baby zur Zwangsarbeit geschickt, obwohl auch sie nach dem Urteil als Volksfeinde gelten. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. Wie ein Damoklesschwert steht über Sofia Gensch das Urteil: Weil sie Angehörige eines Volksfeindes ist, muss sie, sobald sie das 16. Lebensjahr vollendet hat, ihre Strafe von zehn Jahren Zwangsarbeit beim Bäumefällen antreten. Dazu kommt es nicht, weil Stalin im Jahr 1948 eine Amnestie für die Kinder von Volksfeinden erlässt.
Das KGB-Archiv enthüllte vor 24 Jahren auch, was aus Sofia Genschs Vater geworden ist: Zwei Jahre nach seiner Verurteilung ist er am 10. Mai 1940 gestorben. Geschehen im Dorf Maldjak in der Strafkolonie Magadan ganz im Nordosten der Sowjetunion nahe dem Pazifik. Todesursache: Herzschwäche. Sofia Gensch sagt: „Zu Tode gearbeitet.“
Kasachstan. Sein Urgroßonkel
verschwand im Januar 1918.
Das amtliche Schreiben aus dem Jahr 1956 stammt aus dem Archiv des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Es beinhaltet für Sofia Gensch die Aufhebung ihrer im August 1941 verfügten Verbannung nach Kasachstan. Zur Zeit ihrer Verbannung aus dem Autonomen Gebiet der Wolgadeutschen von Saratow war sie ein Kind von viereinhalb Jahren. Aber sie hat noch Erinnerungen an die wochenlange Fahrt in einem Viehwaggon: „An den Haltepunkten wurden die Leichen ausgeladen. Nur einmal eine gute Überraschung: An einem Haltepunkt standen Kirgisen. Die hatten Mitleid mit uns und haben uns aus großen Kannen Airan zu trinken gegeben. Am 21. September 1941 kamen wir in Nordkasachstan an. Bis Dezember 1941 waren wir in Strohhütten untergebracht, danach bei Ukrainern einquartiert. Die waren schon vor uns deportiert worden. Aber zu diesem Zeitpunkt war schon die Hälfte von uns Deutschen erfroren oder verhungert.“
Zarin holte die Deutschen ins Land
Eduard Murschel (59) wohnt heute in Hannover-Vahrenheide. Er gehört zum Kirchort St. Franziskus (Gemeinde Heilig Geist). Geboren ist er in Astana (Kasachstan). In Kasachstan hat er im Bergbau als Maschinen-Steiger gearbeitet, zuletzt in der Stadt Zaran 1500 Meter tief in der Kohle-Grube „Schachta Dubowskaja“. Eduard Murschel sagt über seine Familie: „Meine Vorfahren waren von der Zarin Katharina II. vor 250 Jahren ins Land gerufen worden. Sie waren Kaufleute. Die Familie meiner Mutter stammte aus München und war katholisch, die Familie meines Vaters stammte aus Stuttgart und war evangelisch. Meine Großeltern haben noch Bayerisch beziehungsweise Schwäbisch gesprochen. Mein Vater und meine Mutter haben sich erst als Deportierte in Kasachstan kennengelernt. Mein Vater Benjamin Murschel hatte vorher auf der Krim gelebt, meine Mutter, eine geborene Bertha Huck, in Odessa.“
Mit neun Schüssen hingerichtet
Ein Opfer des ganz frühen Roten Terrors war Eduard Murschels Urgroßonkel Michael Murschel. Eduard Murschel sagt: „Mein Urgroßonkel Michael Murschel war ein wohlhabender evangelischer Kaufmann. Er lebte in St. Petersburg und war sehr fromm. Er war sogar Patronatsherr von zwei evangelischen Kirchen, einer aus Steinen gebauten und einer hölzernen Kirche. In diesen beiden Kirchen hatte seine Familie eigene Sitzbänke.
Im Januar 1918 wurde er von einer Gruppe Männer in schwarzen Ledermänteln mit roten Armbinden festgenommen und verschwand. Im Frühjahr 1918 wurde seine Leiche in einem Wald außerhalb St. Petersburgs gefunden. Seine Leiche hatte nur noch Unterwäsche am Körper. Die Männer, die ihn gefunden hatten, sagten, dass er schwer gefoltert worden war. Danach war er mit neun Schüssen in Genick, Stirn und Brust getötet worden. Die Männer, die seine Leiche gefunden und zu seiner Familie gebracht hatten, wurden kurz darauf von der Tscheka verhaftet und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Die beiden evangelischen Kirchen, für die mein Urgroßonkel Patronatsherr war, wurden abgerissen, die Pastoren erschossen. Es gibt nichts mehr, was an sie erinnert.“
Tillo Nestmann