16.09.2021
Das Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern
Lehrer, Freund, Erlöser
Die Jünger fürchten sich, heißt es im Evangelium. Und zwar vor Jesus. Sie fragen deshalb nicht nach, als sie seine Lehre nicht verstehen. Nein, Freunde auf Augenhöhe waren sie wohl nicht, sagt der Neutestamentler Thomas Söding.
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Von Kerstin Ostendorf
Das Evangelium an diesem Sonntag ist typisch für viele Textstellen im Neuen Testament: Jesus erzählt seinen Jüngern vom Reich Gottes, deutet an, was ihn in Jerusalem erwarten wird, spricht von Tod und Auferstehung. Und die Jünger verstehen nichts, haben aber Angst, ihn um eine Erklärung zu bitten. Und wenn Jesus nachfragt, schweigen sie. Warum? Nennt er sie nicht Freunde? Ist er doch nur ein strenger und bisweilen ungeduldiger Lehrer?
„Es gibt unterschiedliche Ebenen in ihrer Beziehung“, sagt Thomas Söding, Professor für Neues Testament an der Ruhr-Universität in Bochum. „Freundschaft und Lehre ergänzen sich dabei.“ Vor allem das Johannesevangelium betone – im Unterschied zu Markus – die Freundschaft zu den Jüngern. „Jesus lehrt durch das Gebet, durch die Art, wie er auftritt und lebt“, sagt Söding. „Er baut eine vertraute Beziehung zu den Jüngern auf und öffnet in der Lehre sein Herz: Das ist schon eine Art von Freundschaft.“
Allerdings sei es eine besondere Form: „Im Johannesevangelium heißt es: ‚Ich nenne euch Freunde.‘ Jesus gewährt ihnen also seine Freundschaft. Das ist nicht auf Augenhöhe. Aber wie sollte es das auch sein?“, sagt Söding. „Jesus ist der Messias, er ist von Gott gesandt. Was er verkündet, können seine Jünger ausschließlich von ihm lernen.“
Söding vergleicht die Beziehung mit der Atmosphäre in den großen antiken Philosophenschulen: Auch dort gab es freundschaftliche Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern. „Aber es war nicht gefühlsduselig. Man hatte etwas zu sagen und zu lernen. Es ging immer um die Wahrheit. Man stritt um richtige und falsche Argumente, in einer respektvollen Atmosphäre.“ Ähnlich sei es auch bei Jesus. „Glaube und Vernunft gehören zusammen. Jesu Offenbarung ist nicht irrational. Wir können uns argumentativ damit beschäftigen. Aber eben nicht ausschließlich“, sagt Söding. Der Glaube sei auch eine intensive Lebensbeziehung, zu ihm gehöre die Liebe zu Gott und zum Nächsten.
Ist Jesus vielleicht ein schlechter Lehrer?
Viele Textstellen in den Evangelien zeigen aber auch, wie streng Jesus mit seinen Jüngern umgeht. Er rügt sie mit harschen Worten, weil sie ihn nicht verstehen, weil sie nicht auf sein Wort vertrauen. Ist er also ein schlechter Lehrer? Oder können die Jünger seine Botschaft einfach nicht verstehen?
„Weder, noch“, sagt Söding. „Das, was Jesus lehrt, ist kein niedrigschwelliges Angebot, sondern eine echte Herausforderung. Alles, was den Jüngern wichtig war, wird durch Jesu Lehre radikal infrage gestellt.“ Im Evangelium an diesem Sonntag geht es um Verfolgung, Kreuzigung und Auferstehung, um Leben und Tod. „Die Jünger tun sich schwer, Jesu Worte zu verstehen, und können nicht auf seinem Niveau kommunizieren. Aber das spricht nicht gegen die Qualität der Lehre Jesu – und auch nicht gegen die Intelligenz der Jünger. Wer von uns kann schon behaupten, das komplett zu verstehen?“
Jesus kann seinen Schülern keine einfachen und endgültigen Antworten bieten. In den rabbinischen Schulen zur Zeit Jesu wurden jüdische Männer auf einem hohen intellektuellen Niveau in die Tora und die jüdischen Schriften eingeführt. „Irgendwann waren diese Schüler in der Lage, besser zu werden als ihr Lehrer“, sagt Söding. Bei Jesus sei es ähnlich und doch anders: Er ruft die Jünger zu sich, unterrichtet sie und deutet ihnen die Schrift. „Die Pointe ist aber: Ihr bester Lernerfolg ist die Erkenntnis, dass sie immer in seiner Schule bleiben werden“, sagt Söding.
Der Bibelwissenschaftler hält Jesus sogar für einen besonders guten Lehrer. „Er arbeitet mit seinen Jüngern und weist sie nicht zurück“, sagt Söding. Im Text an diesem Sonntag streiten die Jünger, wer von ihnen der Größte sei. Jesus geht auf sie ein und versucht ihnen zu erklären, was groß und klein, stark und schwach bedeutet. „Um das zu verdeutlichen, holt er ein Kind in ihre Mitte, das schwächste Mitglied der Gesellschaft. Das ist doch ein didaktisches Meisterstück.“
Und nicht nur das: Jesus war auch Lernender. „Jesus war nicht doktrinär, er war kein Instrukteur Gottes. Er kannte die ganze Wahrheit, lernte aber auch selbst dazu“, sagt Söding. Das Markusevangelium berichtet davon, wie Jesus auf eine heidnische Frau trifft, deren Tochter von einem Dämon besessen war. Sie bittet ihn um Hilfe, doch Jesus weist sie ab: Zunächst sollten die Kinder satt werden, ehe man das Brot den Hunden gebe. Sie antwortet, dass auch Hunde die Brotkrumen, die vom Tisch herunterfallen, fressen dürfen. Dieser Einwand überzeugt Jesus und er heilt ihre Tochter. „Er hat von der Frau gelernt und seine Meinung geändert. Er gibt nicht nur ein Ergebnis vor, sondern entwickelt im Streit den Lösungsweg“, sagt Söding.
Die Zuhörer sollen Denkblockaden aufgeben
Jesus tritt aber auch in Synagogen oder im Tempel auf und diskutiert mit den Ältesten und Schriftgelehrten, die seine Botschaft kritisieren. „Seine Kritiker haben ein anderes Verständnis von Gott als Jesus“, sagt Söding.
Das sehe man etwa bei dem bekannten Gleichnis Jesu von den bösen Winzern, die jeden Boten töten, der die Pacht von ihnen eintreiben will, einschließlich des Sohnes des Weinbergbesitzers. „Die Hohenpriester und Schriftgelehrten verstehen jedes Wort und wissen sehr wohl, was das Gleichnis bedeutet. Sie erkennen, dass Jesus sie damit kritisiert. Aber sie ändern ihr Verhalten nicht.“ An der Didaktik liege es also nicht. „Jesus kann sie nicht bekehren, er muss sie auf eine andere Weise für Gott gewinnen“, sagt Söding.
Das versucht Jesus seinen Jüngern beizubringen: das eigene Verhalten zu hinterfragen, die eigenen Denkblockaden aufzugeben – und sich retten zu lassen. Sie sollen seine Nachfolge antreten, sie sollen seine Botschaft allen Menschen verkünden: Gottes Herrschaft ist euch nahegekommen.