02.05.2023
Bruder Benedikt Müller fiebert dem Finale entgegen
Die heilige Woche für den ESC-Fan
In wenigen Tagen starten das Finale des Eurovision Song Contest. Für Bruder Benedikt Müller ist das ein Höhepunkt im Jahr. Der Musikwettbewerb begeistert ihn seit seiner Kindheit. Dem deutschen Beitrag traut er eine gute
Platzierung zu – und er entdeckt darin spirituelle Bilder.
Von Kerstin Ostendorf
Der 9. Mai 1987 hat sich tief in die Erinnerung von Bruder Benedikt Müller eingebrannt. An diesem Samstag feierte seine Mutter ihren Geburtstag. Doch auf Gespräche mit Onkel und Tanten hatte der 15-Jährige keine Lust. Mit Schinkenbraten und Cola saß er im Wohnzimmer und schaute gebannt auf den Fernseher: Der Grand Prix de l’Eurovision de la Chanson wurde aus Brüssel übertragen. Als erste Teilnehmerin trat damals die Norwegerin Kate Gulbrandsen mit ihrem Lied „Mitt Liv“ auf. „Sie betrat die Bühne – und mich hat es geflasht“, sagt Bruder Benedikt. „Ich habe mich unsterblich in Kate verliebt. Für mich hätte an diesem Abend niemand mehr auftreten müssen.“
Er träumte davon, nach Norwegen zu reisen und die Sängerin kennenzulernen. „Gleich am nächsten Tag bin ich zum Kiosk und habe mir ein Geo-Spezial über Norwegen gekauft“, sagt er. Die Reise zu Gulbrandsen hat er nie gemacht – seine Faszination für den europäischen Musikwettbewerb aber ist ungebrochen.
„Mich fasziniert das Völkerverbindende“
Der 50 Jahre alte Benediktiner zählt mühelos Austragungsorte, Jahreszahlen und Gewinner des ESC auf. Als Kind kaufte er sich von seinem Taschengeld viele Zeitschriften, um Berichte über den Musikwettbewerb auszuschneiden und zu sammeln. Seit den 1970er Jahren hat er nur zwei Shows verpasst: 2008, als seine Taufpatin ihren 50. Geburtstag feierte, und 2009 im ersten Jahr als Ordensbruder im Kloster im sauerländischen Meschede. Sonst sitzt er Jahr für Jahr bis spät in die Nacht vor dem Fernseher, wenn Sängerinnen und Bands aus ganz Europa um den Sieg ringen.
„Mich fasziniert das Völkerverbindende dieses Wettbewerbs“, sagt er. Die Idee, dass nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs die Nationen zusammenkommen, um friedlich zu feiern, begeistert ihn. Beim ESC könnten die Zuschauer Europa in seiner bunten Vielfalt erleben, sagt Bruder Benedikt: „Daher bin ich unbedingt dafür, wieder eine Sprachenregelung einzuführen.“ Seit 1999 darf jedes Land frei wählen, in welcher Sprache es auftreten möchte: „Vorher war es wunderbar: Man hörte ein spanisches Lied, dann ein isländisches, dann eines auf Hebräisch.“ Er vergleicht es mit einem Regenbogen: „Erst die Vielfalt macht die Einheit lebendig.“
Diese Vielfalt vermisst er jetzt. Das hält ihn aber nicht davon ab, sich auch in diesem Jahr die Show aus Liverpool gemeinsam mit einigen Ordensbrüdern anzuschauen. „Nette Leute, ein bisschen Bier, Wein und Knabbersachen – mehr braucht es für einen gelungenen ESC-Abend ja nicht“, sagt er.
Sie wählen Favoriten, fiebern mit und stimmen für die Sängerinnen und Sänger ab. „Meist können wir uns nicht einigen und rufen für verschiedene Interpreten an. Wir verteilen unsere Liebe auf viele Länder“, sagt er und lacht. Oft liege er mit seinem Tipp richtig und sein Favorit gewinne den Wettbewerb.
In diesem Jahr setzt Bruder Benedikt auf Italien oder Frankreich. „Das italienische Stück ist großartig komponiert und Marco Mengoni ein toller Sänger“, sagt er. Für Frankreich geht La Zarra ins Rennen: „Eine richtige Diva mit einem französischen Chanson, das an große Grand-Prix-Momente erinnert.“ Der Ordensmann traut ihr zu, die momentan bei den Buchmachern hochgelistete schwedische Sängerin Loreen „von der Bühne zu fegen“. Außerdem sei Frankreich mal wieder dran: „Sie haben seit 1977 nicht mehr gewonnen.“
Den deutschen Beitrag „Blood and Glitter“ der Band „Lord of the Lost“ sieht er zwischen Platz 5 und 15. Er glaubt, dass das Lied vor allem das Publikum, weniger aber die Jury überzeugen wird. „Es gibt in diesem Jahr mehrere Rocksongs, da haben wir kein Alleinstellungsmerkmal. Aber die Zuschauer peitschen gerne alternative Musik nach vorne“, sagt er.
„Das ist doch die Schöpfung Gottes“
Er ist von dem Lied begeistert. „Das ist der Hammer. Es strotzt vor spirituellen Bildern und hat eine große mythologisch-mystische Tiefe.“ Der Titel erinnere ihn an das Blut Adams und an das Licht des Ostermorgens, es werde von Sünden und Heiligen gesprochen. „Sind wir nicht alle ein bisschen wie Maria Magdalena?“, fragt er. „Und es heißt weiter: Wir sind alle vom gleichen Blut – das ist doch die Schöpfung Gottes und Adam als Ursprung der Menschheit.“
Seit dem Herbst bereitet sich Bruder Benedikt auf den ESC vor. Dann „startet die Saison“, wie er sagt, mit der Bekanntgabe des Austragungsortes und des Datums. Seine größte Sorge: dass der ESC auf Pfingsten fällt. „Dann verpasse ich immer den Einmarsch der Nationen und vielleicht den ersten und zweiten Beitrag, weil wir vorher die Vigil feiern“, sagt er. Von Dezember bis März verfolgt er im Internet die Vorentscheide der Ländern. „In dieser Phase kann man richtige Perlen entdecken, die es aber vielleicht nicht zum Wettbewerb schaffen.“
Entscheidend sei die letzte Woche vor dem Finale, wenn die Sängerinnen und Sänger zum ersten Mal auf der Bühne stehen. „Da kann sich der erste Eindruck beim Publikum noch mal komplett drehen“, sagt er. 2018 sei zum Beispiel der deutsche Beitrag des Singer-Songwriters Michael Schulte erst in dieser Phase von den Buchmachern entdeckt worden und habe schließlich den vierten Platz gemacht. „Entscheidend ist natürlich der Live-Auftritt im Finale. Aber wenn jemand bei den Buchmachern hoch im Kurs steht, kann das ein Indiz für ein erfolgreiches Abschneiden sein“, sagt Bruder Benedikt. Deshalb werde er sich die Halbfinals aus Liverpool genau anschauen. „Das ist die heilige Woche für den ESC-Fan“, sagt er und lacht.
Sein Höhepunkt in diesem Jahr: Kate Gulbrandsen ist erneut angetreten. „Leider hat sie die norwegische Vorentscheidung nicht gewonnen. Aber ihr Lied ,Tränen im Paradies‘ ist der Hammer“, sagt Bruder Benedikt. „Und sie hat immer noch die gleiche Ausstrahlung wie 1987. Das ist das Lied meines Herzens in diesem Jahr.“